Foto: Sergei Sawostianow/RG
Bis 2008, Jahr der Wirtschaftskrise, war alles einfach: Die literarische Massenware arbeitete sich unisono am realistischen Roman ab. Autoren wie Sergej Minajew wählten die angelsächsische urbane Prosa als Vorbild und projizierten ausländische Sujets auf russische Realien.
Ein anderer Trend war der „Glamour-Roman“ mit Geschichten ehrgeiziger Schönheiten, die in den entsprechenden Gesellschaftskreisen nach ihrem Traumprinzen Ausschau halten. Dieses Genre verkörpert unübertroffen Oksana Robski.
Derartige Bücher zeichneten das Bild einer Gesellschaft, in der die Zahl der Büroangestellten wuchs und der Erdölboom eine Klasse von Müßiggängern hervorgebracht hatte. Zugleich gaben sie den aus der Provinz in die Großstädte strömenden Zugereisten Strategien zum täglichen Überlebenskampf an die Hand.
Demgegenüber verweigerte sich die „hohe Literatur“ hartnäckig der Gegenwart. Die Mehrheit der Werke, die in den letzten zehn Jahren den russischen Booker-Preis erhielten, thematisiert die Vergangenheit, bevorzugt die sowjetische. Selbst Olga Slawnikowas Zukunftsroman „2017“ und Wassili Aksjonows im 18. Jahrhundert angesiedelter Text „Voltairianer und Voltairianerinnen“ verweisen den Leser auf die Sowjetzeit.
Die mit den Gespenstern der Vergangenheit kämpfenden Schriftsteller hörten auf, sich mit dem traditionell ureigensten Anliegen russischer Literatur zu befassen: einer geistigen Aufarbeitung und Ausdeutung der Realität.
Sieht man einmal von Wiktor Pelewin und Wladimir Sorokin ab. Pelewin bringt Herbst für Herbst einen neuen Roman heraus, in dem er die Träume und Ängste parodiert, die die Gesellschaft während des zurückliegenden Jahres bewegten. In ähnlicher Manier schreibt auch Sorokin, wenn auch radikaler.
Als einem der ganz Wenigen
gelang es dem Historiker und Fernsehmoderator Alexander
Archangelski mit seinem 2008
erschienenen Roman „Der Preis der Abtrennung“, das Feld der Massenliteratur neu zu beackern. Archangelski beschreibt präzise und stilistisch brillant die russische Hauptstadt in Zeiten des Erdölüberflusses.
Ehrliches Leben im Falschen
Ein „seltenes Exemplar“ ist Jewgenij Grischkowjez, der eine Brücke zwischen „hoher Literatur“ und Massenliteratur zu schlagen versucht. Er begann als Schauspieler mit Ein-Mann-Stücken, die mehr an die amerikanische Stand-up-Comedy erinnerten, denn an klassisches russisches Theater. Seine Erinnerungen an den Wehrdienst bei der russischen Marine („Wie ich einen Hund aufaß“) machten ihn bekannt. 2004 erschien sein erster Roman „Das Hemd“ (Amazon) im Stil des Realismus, aber grundehrlich und mitreißend.
Für einige Aufmerksamkeit sorgte Sachar Prilepin, Tschetschenienveteran und Mitglied der radikalen „Nationalbolschewiken“. Mit „Sanka“ ging er den Weg eines jungen Revolutionärs aus der russischen Provinz, der sich gegen das Regime stellt. Auch in „Grjech“ (Die Sünde) blieb er diesem Ansatz treu: Darin nämlich versucht der Protagonist, sich in einer erdrückenden Wirklichkeit menschliche Werte wie Ehrlichkeit und Humanität zu erhalten.
Die russische Literatur krankt an ihrer zentralistischen „Hauptstädtischkeit“: Bücher, die in der Provinz spielen, haben in der Regel keine Chance, überregional bekannt zu werden. Eine der wenigen Ausnahmen ist „Sergejew und das Städtchen“ (2004), in welchem Autor Oleg Sajontschkowskij die Provinz mit feinem Optimismus umspült. Im letzten Jahr sorgte Roman Sentschins „Jeltyschewy“ für Aufsehen, ein Buch über einen Polizisten, der mit seiner Familie in ein Dorf zieht. Nach und nach zerfällt die Familie. Sentschin zerstörte den Mythos, dass die Rückkehr ins einfache Landleben die Probleme Russlands lösen kann.
2008 hat die Wirtschaftskrise der Massenliteratur arg zugesetzt. Kaum war das Schriftstellerhandwerk einigermaßen einträglich geworden, sanken die Honorare aufs Neue, und damit auch die Zahl derjenigen, die Lust auf dieses Handwerk verspüren.
In der „hohen Literatur“ sind kaum Tendenzen auszumachen. Geht der Kurs einmal in Richtung dokumentarischer Roman, machen bald darauf Reiseberichte das Rennen, dann wieder
erlebt die historische Prosa eine Renaissance. Was alle Strömungen eint, ist die Angst vor literarischen Experimenten.
Einzige Ausnahme: der im deutschsprachigen Teil der Schweiz lebende Michail Schischkin, der in Romanen wie „Wsjatie Ismaila“ (Die Eroberung Ismails) exzessiv mit Sprache und literarischen Formen spielt.
Der Erfolg Schischkins und anderer, in einem nichtrussischen Sprachmilieu lebender, dabei jedoch Russisch schreibender Autoren mag eine neue Tendenz aufzeigen: Eines der stärksten Bücher der letzten Jahre war Miriam Petrosjans Roman „Dom, wkotorom“ (Das Haus, in dem), eine überwältigende Melange aus Fantasy und psychologischem Roman. Petrosjan lebt und arbeitet im armenischen Jerewan.
Konstantin Miltschin ist Literaturkritiker bei der Zeitschrift Russkij Reportjor.
Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
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