VIP’s haben Vorfahrt vor Krankenwagen

Ambulanzfahrzeuge müssen in Russland Vorfahrt gewähren, wenn Straßen für VIP-Konvois gesperrt werden – mit manchmal tödlichen Folgen.

Nadezhda lag in den ersten Wehen, als die Familie aus einer Ortschaft in den Außenbezirken von Moskau den Ambulanzwagen riefen. Der Arzt hatte zwar zu bedenken gegeben, dass es mit den Wehen sehr schnell gehen könne, aber niemand glaubte an weniger als fünfzehn Minuten. Als Ehemann Nikolay merkte, dass das Baby kam, telefonierte er mit dem Ambulanzdienst, um zu sagen, dass der Krankenwagen sich zu sehr verspäte. Die Telefonistin Natalya nahm das Gespräch entgegen und half dem verzweifelten Vater, nun bei einer Hausgeburt beizustehen. Glücklicherweise wurde das Kind gesund geboren und für die Mutter verlief alles komplikationslos. Der Ambulanzwagen kam eine halbe Stunde später.  

Der qualvolle Weg der Ambulanzwagen durch Moskaus verstopfte Straßen erinnert an die Flucht von Verbrechern in Kriminalromanen. Sehr wenige Autofahrer sind bereit, dem Notarzt den Weg frei zu machen und können dies auch oft nicht, da sie im gleichen Stau stecken. Daher sind die Ambulanzwagen gezwungen, die Gegenfahrbahn zu benutzen oder umzukehren und zu versuchen, einen “Fluchtweg” in eine andere Richtung zu finden. Das sind aber nicht die einzigen Hindernisse, die sie auf ihrem Weg bewältigen müssen.

In großen Städten wie Moskau oder St. Petersburg gibt es täglich Straßensperren, um Polit-VIP-Konvois den Weg frei zu machen. Nach Angaben der Beamten der Staatlichen Inspektion für Verkehrssicherheit dauert eine solche Straßensperrung ca. 2 bis 3 Minuten. In Wirklichkeit sind es jedoch nicht weniger als 10 Minuten, da der Verkehr schon lange im Voraus gestoppt wird. Wenn es dabei um eine der Straßen des Moskauer Umgehungsrings geht, kann es sogar 2 bis 3 Stunden dauern und Staus von 20 oder 40 Km verursachen. 

Keine Statistiken, keine Probleme

Am 30. November wurden die wichtigsten Straßen der Hauptstadt gesperrt. Während ca. 10 oder 15 Minuten mussten hunderte von Fahrzeugen stehen bleiben. Der Grund dafür war einfach: Ministerpräsident Wladimir Putin stattete dem Lenkom-Theater einen Besuch ab, um einem Treffen der Theatergruppenleiter beizuwohnen.

Mitten in diesem Stau stand eine Ambulanz, die warten musste bis der Wagen des Premierministers mit seiner Sicherheitseskorte vorbeigefahren war. Der Fall wurde in den Medien verbreitet und es gab einen Skandal. Ist es normal, dass ein Ambulanzwagen warten muss, um den Konvoi eines hohen Staatsbeamten vorbeizulassen?  Die für die Straßensperrung verantwortlichen Beamten der Staatlichen Inspektion für Verkehrssicherheit teilten mit, den Ambulanzwagenfahrer vorher gefragt zu haben, ob es sich um einen Notfallpatienten handelte, und nach ihrer Angabe habe er dies verneint.

Bedauerlicherweise handelt es sich weder um den ersten noch um den einzigen Fall, in dem Ambulanzwagen und Patient zu “Geiseln” hoher Staatsbeamter werden. Im Netz lassen sich dutzende Videos von Krankenwagen finden, die auf die Durchfahrt von offiziellen Konvois warten. Hier wird ein Beispiel von der Moskauer Kutuzovsky Allee 2011 gezeigt:

Gemäß dem Föderalen Staatsschutzgesetz Nr. 57 aus dem Jahr 1996 wird der Straßensperrungsbeschluss vom Föderalen Staatsschutzdienst getroffen und muss von den Beamten der Staatlichen Inspektion für Verkehrssicherheit befolgt werden.

Alexander Shumsky, Leiter einer NGO zur Bekämpfung der Moskauer Verkehrsstaus, meinte in seinem Interview gegenüber Russland Heute: “Meiner Ansicht nach ist das Vorgehen der Beamten der Staatlichen Inspektion für Verkehrssicherheit strafbar, aber die Fahrer können nichts tun. Sie müssen gehorchen, da es gefährlich ist, sich mit diesen Leuten anzulegen“. 

Der Journalist Yuri Pronko berichtet in seinem Blog wie eine alte Frau an einem Herzinfarkt starb während sie in einem durch die Sperrung der zentralen Hauptstadtstraßen verursachten Stau auf den Rettungsdienst wartete. Der Rettungswagen kam zu spät.

Nach Berechnungen von Alexander Shumsky kann die Zahl der Menschen, die durch Verspätung der Rettungswagen in Moskau sterben, bei ca. zwei bis dreitausend jährlich liegen, wobei es jedoch keine offiziellen Angaben gibt, die diese Vermutung bestätigen könnten. „Wir haben bei verschiedenen Abteilungen und Ministerien die Vorlage von Todesopferstatistiken angefordert“, so Alexander Schumsky, „und waren ziemlich überrascht, als das Innenministerium uns antwortete, es gäbe dazu keine offiziellen Daten. Wenn es also keine Statistiken gibt, dann gibt es auch kein Problem“. Dennoch glaubt er, dass die Bürger bei der Veröffentlichung solcher Angaben vielleicht etwas mehr Respekt vor der Arbeit des Rettungspersonals zeigen würden.

Vor Kurzem wurden auf einer inoffiziellen Webseite des Rettungspersonals die Antworten einer an die Ambulanzwagenfahrer gerichteten Umfrage veröffentlicht. Auf die Frage “Lassen die Beamten der Staatlichen Inspektion für Verkehrssicherheit Sie bei einer Straßensperre durch?“ gab es folgende Antworten: 31,58% der Befragten antwortete mit Nein, die gleiche Anzahl gab an, es „manchmal“ zu dürfen; 29% der Befragten antworteten: „Sie lassen uns nur durch, wenn wir ihnen zuschreien, dass es dem Patienten sehr schlecht geht“, und nur 7,8% der Fahrer behaupteten, fast immer durchfahren zu dürfen. Ein solcher Glückspilz hat uns dabei einen seiner Tricks verraten: “Ich sage den Beamten immer, dass sie dafür verantwortlich sind, wenn mir der Kranke stirbt“ und fügt hinzu: „Das klappt hervorragend!”. 

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