Dialekte zwischen Murmansk und Sotschi: Wie sich Russen aus verschiedenen Landesteilen verstehen

Sie werden vielleicht überrascht sein, aber die Sprachmuster in Moskau und Wladiwostok (9000 Kilometer voneinander entfernt) sind sich viel ähnlicher als in Moskau und Rjasan (nur 200 Kilometer entfernt). Russia Beyond erklärt, wie es dazu kam.

Modernes Russisch nur altrussischer Dialekt

Die Menschen der mittelalterlichen Rus waren größtenteils Analphabeten. Sie hatten keine Wörterbücher und kannten keine Regeln. Daher basierte die vorliterarische altrussische Sprache vor dem 14. Jahrhundert vor allem auf mündlichen Überlieferungen: Sie war spontan und beruhte nicht auf verstockten Akademikern, die Sprache mit Gesetzen festlegten.

Die Rus war ein Flickenteppich aus feudalen Fürstentümern. Obwohl einige von ihnen unter dem tatarisch-mongolischen Joch schmachteten, entwickelte sich die altrussische Sprache weiter. In geographisch nahen Regionen begann sich die Sprache in verschiedene Richtungen zu verändern. So entstanden nach und nach drei Dialekte: Ukrainisch, Weißrussisch und Russisch. Jeder von ihnen entwickelte sich schließlich – spätestens mit dem Zerfall der Sowjetunion - zu einer eigenen Landessprache. Zusammen bilden sie die eng verwandten ostslawischen Sprachen.

Die drei Hauptdialekte des Russischen

Obwohl Russland so extrem groß ist, unterscheiden Linguisten nur drei Gruppen russischer Dialekte: Nord-, Süd- und Zentraldialekt, wobei der Letztere stark von den beiden anderen beeinflusst wird.

Laut Igor Issajew, Direktor des Instituts für Linguistik der Russischen Staatsuniversität für Geisteswissenschaften, könnte man die alten Dialekte im Osten Russlands noch einmal teilen, indem man eine Linie quer durch den mitteleuropäischen Teil des Landes von Wjatka über Nischni Nowgorod nach Saratow im Süden zieht.

Alle Dialekte östlich dieser Grenze - das heißt im Ural, Sibirien und Fernost – bildeten sich auf der Grundlage der Dialekte der frühesten slawischen Besiedlung. Dies ist die Sprache der Siedler aus Zentralrussland, die sich im Laufe der Jahrhunderte kaum verändert hat.

Daher werden Sie keinen großen Unterschied zwischen den Sprechmustern in Wladiwostok und Moskau feststellen, während Reisende zwischen dem nördlichen Archangelsk und dem südlichen Krasnodar ihre Ohren teils völlig neu ausrichten müssen.

Sprache formiert sich um politische Zentren

Die sogenannte Literatursprache wird seit jeher in allen großen Städten Russlands gesprochen, was zur allmählichen Aushöhlung der archaischen Dialekte des späten 19. Jahrhunderts beiträgt. Und dennoch kann niemand sagen, dass alle Russen die gleiche Sprache sprechen.

Umgangssprache spielt besonders in Dörfern und Kleinstädten sowie bei älteren Menschen und einzelnen sozialen Gruppen eine wichtige Rolle. Aber diese Unterscheidungen werden niemals so stark wie in verschiedenen Regionen beispielsweise in Deutschland. Bis auf ein paar merkwürdige Worte verstehen sich alle Russen.

Die literarische Norm ist der zentrale russische Dialekt, wie er in Moskau gesprochen wurde. Das liegt daran, dass Moskau die Hauptstadt der Alten Rus war. "Wäre die Macht in Wladimir und Susdal konzentriert geblieben, wo der nördliche Dialekt gesprochen wurde, wie es am Ende des 13. Jahrhunderts war, würden wir heute diesen Dialekt sprechen", so Issajew.

Nord- und Süd-Dialekte vs. literarische Norm

"Wenn Sie mit dem Zug beispielsweise von Petrosawodsk nach Sotschi, also von Norden nach Süden, fahren, werden Sie mehrere Varianten russischer Dialekte hören: Manche sprechen mehr o als a, ts statt tsch oder h statt g“, erläutert Professorin Nelly Krasowskaja von der Universität Tula.

Unterschiede gibt es auf allen Ebenen der Sprache: in der Phonetik (Aussprache von Lauten), Morphologie (grammatikalische Veränderungen des Wortstammes und seiner Vor- und Nachsilben, abhängig von Fall, Zeitform und Zahl) und Vokabular (Bedeutungen der Worte).

Hier sind nur einige der Unterscheidungsmerkmale:

  • Gekanije

Eines der auffallendsten Merkmale des südlichen Dialekts (Rjasan, Kursk, Woronesch, Belgorod) ist das sogenannte "Gekanie", das im akademischen Sprachgebrauch als "frikatives G" bezeichnet wird. Es wird in der phonetischen Lautschrift durch das griechische Gamma-Zeichen γ angegeben, aber ausgesprochen wie ein "h".

Zum Beispiel sagen die Leute statt "snega" ("Schnee" im Genitiv) "sneha". Je weiter man nach Süden fährt, desto tiefer und gutturaler wird das "h", und es beginnt sogar am Anfang der Wörter zu erscheinen. In Krasnodar hören Sie zum Beispiel "Horod" statt "Gorod" ("Stadt"). Übrigens, noch weiter südlichwestlich, in der Ukraine nömlich, ist "Gekanie" die literarische Norm.

  • Okanije und Akanije

Während zentralrussische Sprecher unbetonte "o" oft zu "a" werden lassen: "Maskwa" statt "Moskwa"), sind Nordländer an ihrem klar klingenden "o" erkennbar, besonders in Worten wie „Moloko“ (Milch) oder „choroscho“ (gut).

  • Substitution von "f" zu "ch"

Diese Eigenschaft ist typisch für den Norden und Süden von Russland. Zum Beispiel nannten Bauern auf Leo Tolstois Anwesen in Jasnaja Poljana ihren Meister oft "gorh" statt "graf" ("Graf").

  • Palatalisierung von Konsonanten

Im Norden sagt man "z" statt "tsch": Aus "Petschka" ("Ofen") wird "Pezka" oder der kleine "Wnutschok" ("Enkel") wird zu "Wnuzok".

Das geschieht nicht im Süden. Dort aber erweicht man den Buchstaben "t" am Ende der Verben der dritten Person (ähnlich der Infinitivform).

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