Die ersten Lehnwörter in der Sprache – damals noch Altrussisch – waren Gräzismen: Sie begannen im 10.-11. Jahrhundert in die Sprache einzudringen. Diese neuen Vokabeln bezogen sich sowohl auf religiöse Bereiche, wie ángel (ἄγγελος, dt.: Engel), démon (δαίμων, dt.: Dämon),monách (μοναχός, dt.: Mönch), als auch auf das tägliche Leben, wie krowátj (κρεβάτι, dt.: Bett), tetrádj, (τετράδιον, dt.: Notizbuch), koráblj (καράβι, dt.: Schiff), fonárj (Φανάριον, dt.: Laterne). Diese Worte sind direkt aus dem Griechischen über das Altslawische eingedrungen.
Die nächste Schicht von Lehnwörtern wird durch Skandinavismen repräsentiert. Ihre Entstehung ist auf die sich seit dem 9. Jahrhundert entwickelnden Handels-, Kultur- und Sozialkontakte zwischen dem alten Russland und den Wikingern zurückzuführen. Wissenschaftler haben etwas mehr als zweihundert skandinavische Fremdwörter gezählt, die Personen beschreiben, sich auf soziale Beziehungen und Berufe beziehen und Eigennamen enthalten. Einige dieser Wörter sind im Laufe der Zeit spurlos verschwunden, andere haben überlebt, wie warjág (alt-isl.: Væringjar, dt.: Waräger), wíking (schw.: viking, dt.: Wikinger), knut (altnordisch: knútr, dt.: Peitsche, Knute), kófta (schw.: kofta, dt.: Strickjacke), krjuk (alt-skand.: krókr, dt.: Haken), chljeb (alt-skand.: hleifr, dt.: Brot), die Vornamen Olga (alt-skand.: Helga) und Igor (alt-skand.: lngvarr).
Ebenfalls ab dem neunten Jahrhundert wurde die russische Sprache dank anderer Nachbarn mit Orientalismen angereichert, darunter Turkismen, arabische, persische und chinesischeWörter. Bevor das tatarisch-mongolische Joch nach Russland kam, füllten neue Vokabeln, zum Beispiel bojárin (turk.: bolyarin, dt.: Bojar), schatjór (pers.: چادر , dt.: Hauszelt), bogatýr (turk.: baɣatur, dt.: Recke), schémtschug (turk.: jenčü, dt.: Perle),die russische Sprache aufgrund von Handels- und Militärbeziehungen mit Grenzstämmen, insbesondere mit den Polowezern und den Peschenegen, die die berühmte Handelsroute von den Warägern zu den Griechen (von Skandinavien nach Byzanz) kontrollierten.
Von der Mitte des 13. bis zum Ende des 15. Jahrhunderts waren die russischen Fürstentümer Vasallen des Mongolenreiches und später der Goldenen Horde. In dieser Zeit wurde die Sprache durch Vokabeln aus der Verwaltung, wie jámschik (yamcı, dt.: Kutscher), járlyk (dt.: Etikett), djengá (tanga, dt.: Geld), tjurmá (türmä, dt.: Gefängnis), kasná (ẋazna, dt.: Schatzkammer), dem Militär, wie kosák, kinschál (dt.: Dolch), atamán, sáblja (sap, dt.: Säbel), und dem Alltagsleben, wie chosjáin, (ẋоdžа, dt.: Hausherr), sarafán (särара, dt.: Sarafan), baschmák (başmak, dt.: Hausschuh), stakán (tostakan, dt.: Trinkglas), almás (almaz, dt.: Diamant), tumán (duman, dt.: Nebel), basár (dt.: Markt), erheblich bereichert.
Nach der Befreiung vom Joch begann der russische Staat, intensiv mit dem Westen zu interagieren. Bereits ab dem 7. Jahrhundert begannen ausländische Fachleute in das Land zu kommen, aber ihre Zahl stieg im 15./16. Jahrhundert um ein Vielfaches. Der erste gekrönte Zar von ganz Russland, Iwan der Schreckliche (Regierungszeit 1533-1584), spielte eine besondere Rolle bei der Entwicklung der Kontakte mit Europa. Er nahm regelmäßige Handels- und diplomatische Beziehungen zu den Niederlanden und England auf und warb sogar um Königin Elisabeth. Er lud auch Ärzte, Architekten, Waffenschmiede und Soldaten nach Russland ein. Zu seiner Zeit erschienen im Russischen Wörter wie admirál und soldát (aus dem Niederländischen oder Deutschen), kapitán (aus dem Italienischen) und viele andere.
Im 17. Jahrhundert drang das westeuropäische Vokabular oft über das Polnische ins Russische ein. Dank dessen sind aus dem Französischen kastrjúlja(casserole, dt. Kasserole), dáma und kurjér, aus dem Deutschen bunt (Aufruhr), wáchta (Wache), kúchnja (Küche), aus dem Italienischen brítschka (biroccio, dt.: Pferdekarren) und karáta (carretta, dt.: Kutsche) in der russischen Sprache erschienen. Gleichzeitig kamen auch Polonismen selbst hinzu: z. B. opéka (орiеkа, dt.: Vormundschaft), powídlo (powidła, dt.: Marmelade) sowie die Tradition, Menschen zu siezen.
Während der Herrschaft Peters des Großen (1682-1725) war der Strom der Lehnwörter proportional zum Ausmaß der Reformen durch den Zaren. Mit den neuen Realitäten tauchten auch neue Wörter in der Sprache auf – passende Begriffe, die neue Phänomene bezeichnen: Presidént und kommísja aus dem Lateinischen, gaséta (dt.: Zeitung) aus dem Italienischen.
Forscher haben errechnet, dass in der Epoche Peters des Großen der Verwaltungswortschatz am stärksten entlehnt wurde, obwohl auch Wörter, die alltägliche Realitäten und Begriffe bezeichnen, wie gálstuk (dt.: Krawatte), ópera oder simfonija, vorkommen. Die aktivsten „Wortspender“ dieser Zeit waren Deutsche, Niederländer, Franzosen und Engländer.
Trotz der raschen Anreicherung der Sprache kann die Aufnahme von Entlehnungen nicht als unkontrolliert bezeichnet werden. „Peter selbst verlangte von einem seiner Diplomaten, nicht zu viele Begriffe zu übernehmen: Man kann mit ihnen die Sache nicht verstehen, d.h. er ließ sich von Gründen der sprachlichen Zweckmäßigkeit leiten“, erklärt Jelena Generalowa, außerordentliche Professorin der Fakultät für russische Sprache an der Staatlichen Universität St. Petersburg.
Im frühen 19. Jahrhundert erlebte die Gallomanie in Russland eine Blütezeit. Obwohl das Französische fast nur von einer bestimmten Bevölkerungsschicht, dem Adel, gesprochen wurde, prägte es die damalige nationale Kultur, so dass es die russische Sprache stark beeinflusste.
Die Haltung zu den Entlehnungen war auch eines der Themen der Meinungsverschiedenheiten zwischen den Anhängern der „alten“ und „neuen“ Redeweise; die scharfe Polemik zwischen ihnen fand zu Beginn des 19. Jahrhunderts statt.
„Damals galt Französisch als die Sprache der gebildetsten und aufgeklärtesten Nation. Die Orientierung der Befürworter der neuen Redeweise am Französischen kann als Fortsetzung der Reformen unter Peter dem Großen betrachtet werden, als eine Idee der Europäisierung der Sprache“, bemerkt Jelena Generalowa.
Eine versöhnliche Rolle in diesem Konflikt spielte Puschkin, dessen Werke die Grundlage für die moderne russische Literatursprache bilden.
„Nach Puschkin wurde der Streit über den Entwicklungsweg der russischen Sprache beendet. In seinem Werk hat alles seinen Platz: Bei ihm finden wir Umgangssprache, Entlehnungen und Slawismen, die allesamt dem künstlerischen Ausdruck dienen. Puschkins Kreativität zeigt ein perfektes Gespür für Proportionen. Und es stellt sich heraus, dass alles einen Platz in der Sprache hat“, sagt Generalowa.
An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert übernahm die russische Sprache politisches Vokabular (proletarskij, sozialism). In den 1920er Jahren wurde es übrigens durch eine Welle von Sowjetismen ergänzt – „Eigenerfindungen“ des jungen Sowjetrusslands, die die neuen Realitäten beschreiben sollten und meist Abkürzungungen darstellten: rabfak (rabótschij fakultét, dt.: Arbeiterfakultät), sowchos (sowjétskoje chosjáistwo, dt.: staatlicher Agrarbetrieb), narkom (naródnyj komissar, dt.: Volkskommissar, Minister).
Die nächste Runde aktiver russischer Lehnwörter kam in den 1970er Jahren. Da sind zum einen Jargonismen – Anglizismen, die sich im alltäglichen Sprachgebrauch unter Jugendlichen verbreitet haben: schusy (shoes, dt.: Schuhe), oldy (old, dt.: alt, Eltern). Zudem wurde das Vokabular aus Science-Fiction-Romanen immer beliebter, wie z.B. kíborg.
In den 1990er Jahren kam es zu weitreichenden sozioökonomischen Veränderungen: Der Wechsel des politischen Regimes, der Übergang zur Marktwirtschaft, die Entwicklung des Bankensystems, die explosionsartige Zunahme der Auslandskontakte, die Abschaffung der Zensur, die kulturelle Expansion des Westens. Typisch für diese Zeit ist das wachsende Interesse an allem Fremden, das zuvor unzugänglich war. Und die russische Sprache erlebte wieder einmal einen massiven Zustrom von Anglizismen. Einige kamen mit neuen Realitäten, wie wáutscher, grant, blokbaster, riéltor, piar (PR), markéting, inpitschment, andere ersetzten alte Wörter, wie klining (cleaning), dansing (dancing), schou (show), trek (traсk), und fast alle fanden einen Platz in der Sprache. Hinzu kommt, dass aktiv Wörter entlehnt wurden – sowohl durch die Jugendsprache, wie pipl (people), boj (boy), wajb (vibe), als auch durch den Fachjargon, insbesondere in der IT-Branche, von der vertrauten imejl (e-mail) über kopipast (copypaste) bis hin zu skrolling (scrolling).
Die Digitalisierung der Medien, das Aufkommen sozialer Medien, von Foren und Blogs hat dazu geführt, dass Muttersprachler zunehmend Lehnwörter verwenden, selbst wenn sie unnötig oder überflüssig sind. Dieser Trend der letzten zwei Jahrzehnte hat zu Versuchen von Beamten geführt, die Kontrolle über den Prozess zu übernehmen, was durchaus vorhersehbar und logisch ist.
„Die Entlehnung [von Wörtern] unterlag schon immer der Kontrolle und ist ein Thema, das der Staat zu regeln versuchen kann: Der ideologische Aspekt ist hier offensichtlich. Dennoch können Entlehnungen nicht aus einer Sprache entfernt werden, insbesondere nicht aus einer Sprache mit einer so reichen und langen Geschichte wie dem Russischen. Sie tauchen in der Sprache während der gesamten Zeit ihres Bestehens auf – einige von ihnen bleiben und füllen notwendige Lücken, während andere sie später wieder verlassen. Das Entlehnen ist ein absolut natürlicher Entwicklungsprozess jeder Sprache, er ist untrennbar mit sprachlichen Kontakten verbunden“, erklärt Jelena Generalowa.
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