Kontschalowski: „Die neue Generation der Deutschen trifft keine Schuld“

Vor der Europapremiere von „Paradies“ traf RBTH den Regisseur zum Gespräch.

Vor der Europapremiere von „Paradies“ traf RBTH den Regisseur zum Gespräch.

Ekaterina Chesnokova/RIA Novosti
Der international erfolgreichste russische Film der vergangenen zwölf Monate ist „Paradies“ von Regisseur Andrei Kontschalowski. Das Werk wurde in Venedig für die beste Regie ausgezeichnet und in die Oscar-Shortlist für den besten fremdsprachigen Film aufgenommen. Nun kommt er auch in Europa in die Kinos. RBTH hat den Filmemacher getroffen und mit ihm über den Film und seinen Eindruck von Deutschland gesprochen.

Der Film „Paradies“ handelt von zwei Protagonisten: dem SS-Offizier Helmut und der russischen Fürstin Olga, die nach Frankreich ausgewandert ist. Er inspiziert ein Konzentrationslager, um vor Ort Korruptionsvorwürfe aufzuklären. Sie ist im Lager gefangen, weil sie sich der französischen Resistance angeschlossen und in ihrer Wohnung jüdische Kinder vor der Gestapo versteckt hat. Noch vor dem Krieg hatten beide eine Urlaubsaffäre. Jetzt steht Helmut vor der Wahl: Soll er seine Überzeugungen und seine Karriere opfern, um seine Jugendliebe vor dem Tod in der Gaskammer zu retten? Olga muss sich zwischen ihrem irdischen Dasein und dem ewigen Leben entscheiden.

In den kommenden Wochen kommt das Drama in die Filmhäuser Europas und der Vereinigten Staaten. RBTH hat vor der Filmpremiere mit Andrei Kontschalowski gesprochen.

Die Hauptrolle von russischer Fürstin Olga spielte die Frau von Andrei Kontschalowski Schauspielerin Julia Wyssozkaja. / Kinopoisk.RuDie Hauptrolle von russischer Fürstin Olga spielte die Frau von Andrei Kontschalowski Schauspielerin Julia Wyssozkaja. / Kinopoisk.Ru

RBTH: Der Film thematisiert den Holocaust. Einerseits ist das ein für die Filmkunst unerschöpflicher Stoff. Andererseits gilt dieses Motiv vielen als konformistisch. Es ist schließlich kein Zufall, dass in den letzten beiden Jahren osteuropäische Filme über den Holocaust Oscars gewannen. Sind Sie schon mit Vorwürfen konfrontiert worden?

Kontschalowski: Nein, aber ich bin zu jeder Art von Vorwurf bereit. Letztlich ist ein Vorwurf nur ein Ausdruck dessen, was ein Mensch auf der Leinwand gesehen hat. Bei „Paradies“ könnte jemand durchaus den Eindruck bekommen, dass der Film vom Holocaust handelt – und dem will ich nicht widersprechen. Denn es ist denkbar, dass dies in der Realität jenes Zuschauers genauso ist. Ich habe ja „Paradies“ absichtlich jede Eindeutigkeit genommen. Deshalb fragt man mich auch, ob es eine Bloßstellung oder doch Ironie sei, wenn die Protagonistin dem SS-Offizier um den Hals fällt und ausruft, dass er der Vertreter eines Volkes sei, dessen Größe es zu jeder Grausamkeit berechtige. Diese Frage beantworte ich nie direkt. Vielleicht ist die Szene entlarvend, vielleicht aber auch ironisch. Lassen Sie es mich so sagen, damit ich nicht gleich bei der ersten Frage zu weit aushole: Der Film ist für mich natürlich kein Werk über den Holocaust. Die Tragödie des jüdischen Volkes ist präsent, gibt aber nicht die Richtung vor. Weitaus wichtiger war es für mich, einen Film über die Verlockung des Bösen zu machen. Die zentrale Figur des Films ist ein SS-Offizier, ein unglaublich gebildeter und attraktiver Mann. Aber genau das macht den Horror aus.

Ist es Ihnen wichtig, ob der Film im Westen richtig aufgefasst wird?

Alles, was mit „Paradies“ in Venedig und im Rahmen der Oscar-Shortlist passiert ist, ist für mich eine angenehme Überraschung. Gott sei Dank ist es so gekommen, dass in einer Zeit, in der eine Welle des Drucks aus dem Westen auf Russland zurollt, Menschen dort einen Film sehen können, der ihnen zumindest ein klein wenig über Russland und die Russen erklären kann. Ich glaube, sie werden das schon richtig verstehen.

Am 19. Januar begann der Filmverleih in Russland. / Kinopoisk.RuAm 19. Januar begann der Filmverleih in Russland. / Kinopoisk.Ru

Auch in Deutschland?

Mit den Deutschen ist es komplizierter. Überhaupt halte ich den Zustand des deutschen Volkes für katastrophal – nicht wegen der Migration oder der amerikanischen Besatzung. Und ich meine wirklich Besatzung, denn seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind dort bis heute 80 000 US-Soldaten stationiert. Der katastrophale Zustand dieses Volkes rührt daher, dass man ihm ein Schuldgefühl eingehämmert hat. Es ist eine Sache, ob das Schuldgefühl spontan und bei jener Generation aufkommt, die Verantwortung übernehmen kann und muss. Eine ganz andere Sache ist es, den Menschen eine so große Angst davor einzuhämmern, politisch unkorrekt zu sein, dass sie ihren eigenen Schatten fürchten. Das mitanzusehen, ist schrecklich.

Sie haben keine Kultur, sie ist vollends vernichtet. Und ich hoffe, dass der deutsche Geist wieder lebendig wird. Das heißt ja nicht, dass dieser Geist zum Nationalsozialismus führen muss. Der deutsche Geist – das sind Hegel, Nitzsche, Schopenhauer. Es ist jener Teil europäischer Kultur, ohne den nicht mal wir existieren. Denn Hegel, Nitzsche und Schopenhauer haben auch uns beeinflusst – selbst Wladimir Lenin. Ich denke, die Deutschen werden diesen Film mit Entsetzen sehen, links und rechts schielend, mit der Angst, das zu sagen, was sie wirklich darüber denken. Ich habe mit ihnen gesprochen: Sie senken den Blick und erröten. Es ist sehr schwer für sie. Doch die neue Generation trifft keine Schuld! Ihre Großväter sind in diesen tragischen, trüben, schrecklichen Trudel des Nationalsozialismus geraten. Aber was haben deren Kinder und Enkelkinder damit zu tun? Hier setzt die Verdrängung ein, Glatzen und andere asoziale Strömungen kommen auf.

In der ersten Woche sahen in Russland mehr als 55 000 Menschen den Film. Bei einem Budget von 4,5 Millionen Euro spielte das Drama bislang 17,6 Millionen Rubel, rund 276 000 Euro, ein. / kinopoisk.ruIn der ersten Woche sahen in Russland mehr als 55 000 Menschen den Film. Bei einem Budget von 4,5 Millionen Euro spielte das Drama bislang 17,6 Millionen Rubel, rund 276 000 Euro, ein. / kinopoisk.ru

Dabei spielen deutsche Schauspieler die Hauptrollen in Ihrem Film…

Wissen Sie, was spannend ist? Schauspieler aus Ostdeutschland spielen gerne Nazis. Alle aus dem Westen lehnen das kategorisch ab. Das ist ein interessanter Punkt, wohl etwas Psychologisches. Sie haben bis heute Angst – das wurde ihnen dort eingehämmert. Deshalb sind alle Deutschen, die bei uns gespielt haben, aus dem Osten. Und Himmler wird von einem Russen gespielt: Wiktor Suchorukow.

Gedreht wurde in Frankreich und Deutschland. Das Drehteam war europäisch. Gab es kulturell bedingte Konflikte?

Die größte Schwierigkeit bestand darin, dass meine Leute nie an Arbeitsstunden dachten. Das ist schließlich meine Aufgabe. Sie arbeiten emotional engagiert, ohne an Arbeitsbeginn und -ende zu denken. In Deutschland verläuft alles gradlinig, Abweichung ist undenkbar. Für sie war es komisch, wenn wir zwei Stunden überzogen und noch etwas gedreht haben. Für sie war es genauso komisch, dass wir einmal nur sechs anstelle der geplanten zwölf Stunden gedreht haben. Wir fuhren weg, sie aber sind geblieben, um ihr Honorar abzuarbeiten – obwohl es nichts zu drehen gab. In dieser Hinsicht gehen die Mentalitäten auseinander. Wir verstehen sie, sie uns aber nicht. Aber was ihre Schauspielkunst angeht, so gab es keine Probleme: Sie waren so engagiert, wie sie es sein mussten. 

 

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