Warum war es in den russischen 90ern so gefährlich?

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Das Russland der 90er Jahre glich dem Film „Die Tribute von Panem“: Reichtum und Tod gingen Hand in Hand. Russia Beyond stellt Ihnen die sechs größten Herausforderungen dieser vergangenen Zeit vor.

1 Freier Markt

In der Sowjetunion war es illegal, ein eigenes Unternehmen zu gründen oder zu besitzen. Diejenigen, die versuchten, Waren zu verkaufen, die sie von ausländischen Besuchern erworben hatten, wurden als „Schieber“ (russisch „фарцовщик“ – „farzowschtschik“) bezeichnet. „Farzowschtschiki“ handelten mit allem: von Jeans bis Vinyl, von Schönheitsprodukten bis zu Fremdwährung, oder sie verkauften Mangelware unter der Ladentheke.

Mit dem plötzlichen Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1991 waren alle Barrieren verschwunden und die gestrigen Spiws wurden schlagartig zu erfolgreichen Unternehmern. Es gab ein unermessliches Loch auf dem russischen Markt, das mit Waren aus dem Ausland gefüllt werden wollte und damit viel Geld, was man verdienen konnte. Und wo Geld ist, gibt es diejenigen, die ihren Anteil wollen.

2 Professionelle Kriminelle

Man kannte sie nur aus Filmen und doch waren sie auf den ersten Blick zu erkennen: Gangster. Sie trugen schwarze Lederjacken und gingen langsam über Marktplätze, kauten Sonnenblumenkerne und erpressten Schutzgeld. Diejenigen, die nicht zahlen konnten, wurden bestraft.

In den russischen 1990er Jahren explodierte die Kriminalität: Brigaden von in Leder gekleideten Dieben, die Cafés, Märkte, Unternehmer und kleine Unternehmen jeder Art erpressten. Kriminelle Banden hatten eine Hierarchie, an die sie sich streng hielten, und waren oft sehr gut miteinander verbunden, indem sie ihre illegalen Einnahmen mit mächtigen Leuten ihrer Zeit teilten. Ein Bild von einem Gangster in einer schwarzen Lederjacke bleibt eines der bekanntesten Symbole der 90er Jahre in Russland.

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3 Die Verbrecher der niedrigeren Stufen

Das Bild eines mächtigen, gefürchteten und respektierten Gangsters war ein attraktiver Weg für unruhige Jugendliche, von denen viele vernachlässigt wurden. Jugendliche „spielten“ Gangster: Die älteren kontrollierten die jüngeren Schüler oder erpressten regelmäßig Geld von zufälligen Opfern. „Irgendwelches Kleingeld? Was passiert wohl, wenn ich dich durchsuche und welches finde?“ war eine beliebte Eröffnungszeile eines typischen Gopnik der längst vergangenen Epoche.

„In den 90er Jahren hockten Gopniks auf öffentlichen Plätzen herum und machten nonkonforme Jugendliche ausfindig. Als ich einmal auf einer Veranda auf sie stieß, hielten sie mich an meinen langen Haaren fest und stießen meinen Kopf gegen eine Gegensprechanlage, die draußen hing - solch unschuldige Freizeitbeschäftigungen hatten wir damals“, erinnert sich Wassili Sotnikow, der in den 90er Jahren aufgewachsen ist.

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4 Kampfsporthallen

Steil ansteigende Verbrechen und wachsende Konkurrenz unter Schlägern boten eine perfekte Gelegenheit für unternehmerische Individuen. Karate Studios waren plötzlich in jedem leerstehenden Keller zu finden. Taekwondo und Thaiboxen folgten. In vielen Fällen handelte es sich jedoch nicht um eine sportliche Freizeitbeschäftigung, sondern um ein Trainingslager, in dem kriminelle Banden ihre Kämpfer rekrutierten und ausbildeten.

5 Riesige, unkontrollierte Märkte

Tscherkisowoer Markt

Als die Behörden im Jahr 2009 den legendären Tscherkisowoer Markt endgültig ausflösten, entdeckten sie unterirdische Arbeitsräume und Unterkünfte. Niemand weiß wirklich, wie viele illegale und vermisste Waren und Menschen seit 1990 durch den Tscherkisowoer Markt in Russlands Regionen gelangt sind, aber Experten schätzen, dass Russlands jährlich Milliarden an Einnahmen verloren hat. Es ist wohl unnötig zu erwähnen, dass dieser Ort in den 90er Jahren in Moskau eine kriminelle Brutstätte war, wo Gangster Schleuser „beschützten“ und die Kontrolle über die Warenströme in der Hauptstadt ausübten.

Anita Lebedewa, die in den 90er Jahren noch ein Kind war, erinnert sich an ihre Besuche auf dem Markt. Dort sah sie eine Vielzahl von Gängen, die mit Waren gefüllt waren, von denen viele auf einer halblegalen Basis verkauft wurden: „Jedes Mal, wenn ich auf den Tscherkisowoer Markt kam, sah ich kilometerlange Regale mit Kleidern, Schuhen, Unterwäsche, gemischt mit Gängen, in denen man Essen kaufen konnte... hauptsächlich Kebabs, die zu dieser Zeit für Moskau sehr exotisch waren. Als Kunde hatte man keine Chance, Kleidung ungehindert anzuprobieren: Im Winter probierten wir ein Paar Stiefel auf einem Stück Pappe an. Im Sommer haben wir Badebekleidung anprobiert, während wir von einem Verkäufer oder einem anderen Kunden abgeschirmt wurden.“

6 Betrug

Andere nutzten die Naivität der Menschen aus. Russland in den 1990er Jahren erwies sich als fruchtbares Land für Schneeballsysteme und religiöse Sekten vergleichbarer Natur. Millionen von Russen wurden durch aggressive Fernsehwerbung von fragwürdiger Qualität reingelegt, in Sergei Mawrodi berüchtigtes Schneeballsystem zu „investieren“. Jeder von ihnen verlor sein Geld.

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„Betrüger haben ihre zweifelhaften Pläne auf allen Ebenen angewandt. Meine Eltern haben den größten Teil ihrer Ersparnisse in Tschara, eine kurzlebige Bank, die sich allmählich in ein Schneeballsystem verwandelte, investiert und alles verloren“, sagte Alexei Bobanow, der sich noch immer an das traurige Ereignis erinnert, obwohl er zu dieser Zeit noch ein Kind war.

Religiöse Sekten folgten dem Beispiel. Unreguliert von der Regierung, kassierten sie Geld von einer Vielzahl von naiven Anhängern.

Betrügerische Lotterien wurden verwendet, um ahnungslose Fußgänger zu „angeln“. Ein Lotterieticket war kostenlos, aber es kam immer vor, dass es zwei Gewinntickets gab. Ein „Glückspilz“ wurde dann dazu überredet, den heimlichen Komplizen des Intriganten zu überbieten und scheiterte natürlich daran. So verlor er sowohl sein Geld als auch den Preis. 

„Eine andere Art von Betrug hat folgendermaßen funktioniert: Ein respektabel aussehender Mensch hat Sie angesprochen und behauptet, dass Sie ausgewählt wurden, Teil einer Werbekampagne für eine große Firma zu werden. Er behauptete, dass Sie ein wertvolles Geschenk erhalten werden. Aber um den Gegenstand zu bekommen, musste das Opfer eine „Steuer“ bezahlen. Sie war kleiner als der angekündigte Preis, aber viel höher als der Wert des Geschenkes. Auf diese Weise verkauften sie gefälschte Produkte fünfmal teurer als der eigentliche Wert war“, sagte Walentin Sibirijak, der in den 1990er Jahren alle möglichen Betrügereien in Aktion erlebt hat.

In den 90er Jahren glich das Leben in Russland einem Gang über ein Minenfeld, doch die Fernsehwerbung dieser Zeit war ein reines Meisterwerk.

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