Nikolai Kobelkoff wurde 1851 geboren. Er kam ohne Arme und Beine zur Welt, vermutlich aufgrund einer Amputation im Mutterleib durch das sogenannte Amniotische-Band-Syndrom, einer seltenen Störung unbekannter Ursache. Doch das 14. Kind der wohlhabenden Bürgermeisterfamilie von Wosnessensk, einer Stadt im Ural, war eine Kämpfernatur. Dass er nur Stümpfe statt Arme hatte, hielt ihn nicht davon ab, sich selbständig anzukleiden oder zu trinken.
Nikolai Kobelkoff (1851 – 1933)
ArchivfotoIn den 1880er Jahren traf er in Europa den Prothesenhersteller James Gillingham, der schrieb (eng), dass Kobelkoff „die Rudimente von Beinen hatte - ein Oberschenkel war sechs Zoll lang, der andere etwa zwei Zoll länger. Der rechte Arm war nur ein konischer Stumpf, der linke lediglich das abgerundete Ende eines Knochens.”
Nikolai war von klein auf einfallsreich. Zum Schreiben klemmte er sich einen Stift zwischen Kinn und Armstumpf. Mit 18 Jahren wurde er Buchhalter. „Er sitzt an einem Tisch, hält einen Stift zwischen Kinn und Arm und schreibt mit klarer, gut leserlicher Handschrift. Auf diese Art erledigt er viele Tätigkeiten. Besonders schwer scheint ihm dabei das Essen zu fallen”, berichtete Gillingham.
Nikolai war ein durch und durch positiver Mensch, sonst wäre es wohl auch kaum möglich gewesen, dass er seine erstaunliche Karriere machen konnte. Trotz der fehlenden Gliedmaßen war er sehr stark. Er konnte sich ohne fremde Hilfe aufrichten, bewegte sich auf seinen Beinstümpfen fort und stemmte sogar Gewichte. Sein fröhliches Wesen und seine hervorragenden Manieren machten Kobelkoff sehr anziehend.
1870 bot ihm ein Schausteller ein Engagement in St. Petersburg an. Kobelkoff beeindruckte die Zuschauer durch simple, dennoch faszinierende Handlungen. Wenn er einen Faden einfädelte, steckte er die Nadel mit dem Mund in eine Jacke und führte anschließend ebenfalls mit dem Mund den Faden durch das Nadelöhr. Er war auch in der Lage eine Pistole abzufeuern und damit eine brennende Kerze zu löschen.
Während einer Tournee in Wien lernte Nikolai Anna Wilfert kennen, eine Verwandte von Schaustellern im Wiener Prater, wo Kobelkoff schon aufgetreten war. Anna und Kobelkoff heirateten 1876. Sie wurde seine Assistentin bei seinen Auftritten. Die beiden hatten elf gemeinsame Kinder, viele davon kamen während ihrer Tourneen zur Welt. Sechs Kinder überlebten, jedes war gesund.
In den 1880er Jahren trat Kobelkoff oft unter dem Namen „Rumpfmensch” auf. Einer der Höhepunkte seiner Vorstellungen war eine Nummer mit einem Löwen im Käfig. Er tourte durch Europa und 1882 sogar durch die USA.
Kobelkoff war ein hochbegabter Mann, der auf seinen Tourneen neben Französisch und Deutsch noch Italienisch, Englisch, Ungarisch und Tschechisch lernte. Er trat vor Kaisern und Königen auf, darunter Zar Alexander III., Kaiser Wilhelm II., Königin Wilhelmina der Niederlande und Kronprinz Rudolf von Österreich. Bis 1901 hatte Kobelkoff genug Geld gespart, um ein Grundstück im Wiener Prater von den Verwandten seiner Frau zu kaufen. Er ließ darauf zwei Fahrgeschäfte errichten, ein Velodrom und eine Rutsche.
Obwohl er damit auch Geld verdiente, ging er noch weiter auf Tourneen. Nach und nach wurde er von seinen Kindern begleitet. 1912 verstarb seine Frau Anna an einem Schlaganfall und von diesem Moment an wollte Kobelkoff nicht mehr reisen. Er zog sich nach Wien zurück, lebte dort zusammen mit seinen Kindern und Enkelkindern und kümmerte sich weiter um die Kirmesattraktionen im Vergnügungspark der österreichischen Hauptstadt. Er starb 1933 im Alter von 81 Jahren und wurde auf dem Wiener Zentralfriedhof beigesetzt. Bis in die 1970er Jahre betrieben seine Nachkommen die Fahrgeschäfte im Prater.
Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung ausschließlich unter Angabe der Quelle und aktiven Hyperlinks auf das Ausgangsmaterial gestattet.
Abonnieren Sie
unseren kostenlosen Newsletter!
Erhalten Sie die besten Geschichten der Woche direkt in Ihren Posteingang!