Warum wurden in Russland Glocken bestraft und gar in die Verbannung geschickt?

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Glocken wurden in Russland wie eine Person behandelt. Sie hatten Körperteile und Namen. Und wenn sie sich nicht anständig benahmen, konnten sie auch bestraft werden.

1592 fand in Uglitsch, Russland, ein seltsames Ereignis statt. Eine 320 Kilogramm schwere Glocke wurde auf den Stadtplatz gezogen. Ein Schmied wurde gerufen, um der Glocke die Zunge herauszureißen und ihr die Ohren abzuschneiden. Mit Zunge war der Klöppel gemeint und mit den Ohren die Aufhängungsvorrichtungen der Glocke. Anschließend wurde die Glocke gegeißelt. Zwölf Peitschenhiebe trafen sie. Und schließlich wurde sie noch in die Verbannung geschickt. 60 Familien, die ebenfalls von Uglitsch nach Tobolsk in Sibirien verbannt worden waren, zogen die Glocke dorthin. Die Reise dauerte ein Jahr. 

Die Uglitsch-Glocke.

Die Glocke von Uglitsch wurde bestraft, weil sie am 15. Mai 1591 nach dem Mord an Zarewitsch Dmitri, dem jüngsten Sohn Iwan des Schrecklichen, Alarm geschlagen hatte. Das Glockengeläut hatte einen Aufruhr ausgelöst. Doch warum nur, bestrafte man eine Glocke?

Die Russen glaubten, dass Glocken Seelen hatten. Eine Kirchenglocke war wie ein prominenter Dorfbewohner. Ihr Ton war schon von weitem zu hören. Die Glocken riefen zum Kirchgang, läuteten Feiertage ein, waren Wegweiser für diejenigen, die in einem Schneesturm vom Weg abgekommen waren und warnten vor Angriffen, Bränden, Unwetter und sogar vor Schwärmen von Ungeziefer sowie bei Geburten und Sterbefällen.

Eine Glocke herzustellen war eine teure und komplizierte Aufgabe. Eine Glocke hatte ein langes Leben und konnte als Gemeindeglocke, Kirchglocke oder Alarmglocke dienen. Auch umziehen konnte sie, genau wie eine Person. Entsprechend wurden Teile einer Glocke wie menschliche Körperteile benannt. Eine russische Glocke hat einen Kopf, eine Taille, Lippen, eine Zunge und Ohren.

Die Uglitsch-Glocke war nicht die einzige Glocke, die in der russischen Geschichte bestraft wurde. Hier sind einige andere Beispiele. 

  1. Die Glocke von Twer 

1327 erhoben sich die Bewohner von Twer gegen die mongolisch-tatarischen Steuereintreiber. Der Aufstand wurde unter der Führung des Moskauer Fürsten Iwan Kalita (1288-1340) niedergeschlagen. Er benutzte die Mongolen, um die Fürsten von Twer zu besiegen. 

Twer und die Nachbardörfer wurden niedergebrannt. Iwan Kalita ließ die Glocke, die zum Aufruhr gerufen hatte, aus dem Glockenturm der Verklärungskathedrale in Twer entfernen. Zur Strafe wurde die Glocke nach Moskau gebracht und eingeschmolzen.

  1. Die Glocke von Nowgorod

Die mit Seilen befestigte Nowgorod-Glocke wird aus Nowgorod nach Moskau gebracht. Aus der illustrierten Chronik von Iwan dem Schrecklichen (1568-1576).

In der Republik Nowgorod (1136-1478) war die Wetsche, eine Bürgerversammlung, das höchste Gesetzgebungs- und Justizorgan. Die Wetsche hatte eine eigene Glocke - sie befand sich nicht in einem Glockenturm, sondern in einem Swonniza, einem hölzernen Glockenstuhl. Sie konnte vom Boden bedient werden. 

1478 zerstörte Großfürst Iwan III. von Moskau die Republik Nowgorod. Er befahl, die Wetsche-Glocke abzunehmen und nach Moskau zu bringen. Einige Quellen sagen, dass sie als Alarmglocke im Spasskaja-Turm des Moskauer Kremls eingesetzt wurde.

  1. Die Glocke von Pskow

Der Glockenturm in Nowgorod.

Das gleiche Schicksal ereilte die Glocke der Wetsche von Pskow im Jahr 1510, als Großfürst Wassili III. von Moskau (der Vater von Iwan dem Schrecklichen) Pskow dazu brachte, ihm die Treue zu schwören. Etwa 300 der einflussreichsten Familien aus Pskow wurden daraufhin nach Moskau umgesiedelt.

Am Morgen des 13. Januar 1510 wurde die Wetsche-Glocke abgenommen und „hingerichtet“: Ihr wurden die „Ohren“ abgeschnitten und die „Zunge“ herausgerissen.

  1. Die Glocke, die Zar Fjodor weckte

Restauratoren, die Renovierungsarbeiten am Glockenturm des Spasski-Turms durchführen. Moskau, UdSSR.

Es gibt eine Legende, dass eine Glocke im Moskauer Kreml einst dafür bestraft wurde, den Zaren geweckt zu haben! 1681 wachte Zar Fjodor, der zu diesem Zeitpunkt bei schlechter Gesundheit war, um Mitternacht wegen der Signalglocke des Moskauer Kremls auf. Der Zar war wütend und die Glocke wurde in das Nikolo-Korelski-Kloster in der Region Archangelsk verbannt, so das Gerücht.

Die Legende erwähnt jedoch keine Bestrafung. Im Nikolo-Korelski-Kloster gibt es tatsächlich eine Glocke, die einmal eine Alarmglocke im Spasskaja-Turm des Moskauer Kremls war. Sie wurde während der Regierungszeit von Alexei Michailowitsch (1629-1676) abgebaut, weil der Zar den Klang nicht mochte. Unter Fjodor wurde 1681 die zweieinhalb Tonnen schwere Glocke dem Nikolo-Korelski-Kloster geschenkt. Die Glocke trägt eine Inschrift, die besagt, dass sie am 1. März 1681 „für die anhaltende Gesundheit des Zaren und für die ewige Erinnerung an seine verehrten Eltern“ ins Kloster gebracht wurde.

  1. Die Glocke der Moskauer Pestrevolte

Ein Beispiel dafür, wie Glocken in Russland hergestellt wurden - die Glocke von Iwan Motorin, 1714.

1771 ereignete sich in Moskau die Pestrevolte. Erzbischof Ambrose (1708-1771) wurde ermordet und der Kreml geplündert. Nachdem der Aufstand von der Armee erbarmungslos niedergeschlagen worden war, ließ Katharina die Große ihren Zorn über den Ungehorsam ihrer Moskauer Untertanen an der Alarmglocke des Spasskaja-Turms aus. Ihr wurde die „Zunge“ herausgerissen. So hing sie ohne Klöppel bis 1803 im Turm, bis sie in das Kreml-Arsenal kam.

Wie ging es mit der Glocke von Uglitsch weiter?

Die Uglitsch-Glocke. Beachten Sie die beschädigte Unterkante, die „Lippe“.

Bei der Ankunft der Glocke in Tobolsk im Jahr 1593 sperrten die örtlichen Behörden sie in eine Zelle. An die Tür schrieben sie: Die erste leblose Verbannung aus Uglitsch. Jahre später kam die Glocke in den Glockenturm der St. Sophia Kathedrale, wo sie aufgrund ihres eindringlichen und lauten Klangs zur Zeitangabe und als Feueralarm verwendet wurde.

Die Glocke blieb in Tobolsk. Erst 1892 wurde sie auf Geheiß von Kaiser Alexander III. anlässlich des 300. Jahrestages ihrer Verbannung „begnadigt“. Eine Delegation aus Uglitsch begleitete die Glocke zurück in ihre Heimat.

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