„ALSchIR“: Wie die UdSSR einen Gulag für Frauen und Kinder von „Vaterlandsverrätern“ schuf

Russia Beyond (Ilja Bujanowskij; Aus dem persönlichen Archiv von Olga Wladimirowna Okudschawa)
Ende der 1930er Jahre war der Höhepunkt von Stalins Massenterror erreicht. Damals „blühte“ nicht nur das Netz der Lager für „Vaterlandsverräter“ auf, sondern es entstand auch das ALSchIR – ein separates Lager für deren Ehefrauen und Kleinkinder.

30 Hektar Land, zwei Reihen Stacheldraht und Baracken – so kann man in ein paar Worten das Akmol-Lagers für Ehefrauen von Vaterlandsverrätern (abgekürzt ALSchIR oder Punkt 26) beschreiben.

Das Lager befand sich von 1938 bis 1953 in der Nähe des heutigen Dorfes Akmol (früher Malinowka) in Kasachstan. Während seines Bestehens waren hier Zehntausende Familienangehörige von „Vaterlandsverrätern“ interniert.

Ohne Gerichtsverfahren ins Lager

Der Befehl des NKWD, des Vorläufers des KGB, Über die Repression der Ehefrauen und die Unterbringung der Kinder von verurteilten „Vaterlandsverrätern“ wurde am 15. August 1937 unterzeichnet – und das noch unfertige Lager wurde mit Gefangenen gefüllt.

Alle gegenwärtigen und ehemaligen Ehefrauen von Männern, die wegen Spionage, Verschwörung oder Verbindung mit rechtsoppositionellen trotzkistischen Organisationen verurteilt worden waren, unterlagen der Repression. Die einzigen Ausnahmen waren schwangere Frauen, ältere Menschen und solche, die „schwer und ansteckend krank“ waren – diese durften ihren Aufenthaltsort ohne behördliche Genehmigung nicht verlassen.

ALSchIR-Gedenkkomplex bei Astana

Die Ehefrauen und andere Verwandte von „Verrätern“ wurden nicht vor Gericht gestellt, sondern nur über die Entscheidung der Sonderkonferenz des NKWD informiert. Nach den Erinnerungen von Galina Stepanowa-Kljutschnikowa, der Ehefrau von Andrej Kljutschnikow, außerordentlicher Professor für Mathematik an der Schukowskij-Akademie, saßen zwei Offiziere an einem gewöhnlichen Bürotisch und übergaben ihr ein Stück Papier, das sie unterschreiben musste. Die Entscheidung konnte in keiner Weise angefochten werden – sie war bereits vor diesem Treffen getroffen worden. „Und dann – eine Transitzelle und eine lange Etappe in die kasachische Steppe“, erinnerte sie sich.

Bis heute gibt es keine genauen Angaben über die Zahl der auf Befehl des NKWD Repressierten, die Berichte bleiben geheim. Allerdings wurde eine an Stalin gerichtete Notiz von Nikolai Jeschow, dem Leiter des NKWD, und Lawrentij Beria, „Stalins Henker“, gefunden, in der von „18.000 Ehefrauen verhafteter Verräter“ die Rede ist.

Arbeitsalltag

Die Häftlinge arbeiteten unter entsetzlichen Bedingungen. In dieser Hinsicht war das ALSchIR viel strenger als viele andere Lager des Gulag-Systems. Verboten waren dort insbesondere der Briefverkehr, der Empfang von Paketen sowie das Verbot, in einem bestimmten Fachbereich zu arbeiten. Letzteres war allerdings nur formal. Die meisten Frauen besaßen Arbeitsqualifikationen, die für das Lager sehr notwendig waren.

In den ersten Monaten des Bestehens von ALSchIR arbeiteten die Frauen ausschließlich am Beheizen der Baracken. Sie taten dies mithilfe von Schilf, das in großen Mengen am Ufer des Schalanasch-Sees wuchs (er befand sich direkt auf dem Gebiet des Punktes 26).

Das Schilf, das zwar brennt, aber nur sehr wenig Wärme abgibt, reichte kaum aus. Mitten im Winter begann sich das Lager mit Häftlingen zu füllen, und es hing von der Heizung ab, ob sie bis zum Frühjahr überleben würden. Laut Lagerordnung durften die Häftlinge nicht ins Freie, wenn die Temperatur unter 30 Grad Celsius sank (was in Akmol im Winter keine Seltenheit war, wo die Temperaturen bis auf -40 Grad Celsius sanken). Die Lageraufseher setzten sich jedoch häufig über die Anweisungen von oben hinweg. Im Frühjahr 1938 fanden Inspektoren aus Moskau hier 89 Frauen mit schweren Erfrierungen vor.

„Die Arbeit am See dauerte den ganzen Tag. Während der zehnstündigen Arbeit fühlten wir uns müde, unsere Augen schmerzten vom blendenden Schnee. Wir hatten den Eindruck, dass wir uns, wenn wir dürften, auf Schilfgarben legen und die Augen nicht öffnen würden“, erinnert sich die Gefangene Maria Anzis.

ALSchIR-Gedenkkomplex bei Astana

Als der Winter vorbei war, mussten die Frauen Nähwerkstätten projektieren und bauen. Diejenigen mit einer technischen Ausbildung saßen meist in separaten kleinen Baracken an Tischen und arbeiteten an Zeichnungen. Häftlinge mit einer geisteswissenschaftlichen Ausbildung hatten dagegen weniger Glück – sie mussten Baracken für die Neuankömmlinge bauten.

„Sie kneteten Lehm und Stroh mit bloßen Füßen, füllten Holzformen mit dieser rohen Masse, rackerten sich ab, schleppten die Formen und schüttelten den rohen Lehm auf der Baustelle zum Trocknen aus“, schrieb Galina Stepanowa-Kljutschnikowa.

Als das Lager fertiggestellt war, gab es sechs Baracken, von denen eine bis zu 300 Menschen aufnehmen konnte. Sie lebten unter sehr beengten und harten Bedingungen. Obwohl sich auf dem Gelände ein ganzer See befand, erhielt jeder Häftling nur einen Eimer Wasser pro Woche zum Waschen und Baden.

Die Kinder von ALSchIR

In der sowjetischen Presse jener Zeit wurde Stalins Ausspruch Ein Sohn ist nicht für seinen Vater verantwortlich oft wiederholt. In Wirklichkeit war jedoch jeder für die „Taten“ seines Vaters verantwortlich.

ALSchIR-Gedenkkomplex bei Astana

Frauen, die ins ALSchIR geschickt wurden, nahm man ihre Säuglinge weg und steckte diese in die Kinderkippe, wohin die Mütter nur gelassen wurden, um ihren Kind die Brust zu geben. Wenn die Kinder das dritte Lebensjahr erreicht hatten, wurden sie in ein Waisenhaus gebracht. Es wurden keine Ausnahmen gemacht.

Kinder von „Vaterlandsverrätern“ waren verpönt, was ihr Leben unerträglich machte. „Alle wurden geschoren, umgezogen, ich bekam ein Kleid, das mir zu groß war, jemand, der sehr klein war, dann wurden sie in einen Waggon verladen und in den Ural gebracht. Im Waisenhaus wurde alles auf Kommando gemacht: Sie stellten heißen Borschtsch auf den Tisch, den die Kinder nicht anfassen durften, nach ein paar Minuten nahmen sie ihn weg und stellten den heißen Brei hin, den die Kinder auch nicht anfassen durften, sobald das Kommando ertönte, wurde er weggenommen. Es gab nur eine Ration Brot, und die musste man rechtzeitig essen, denn wenn man das Haus verließ, kontrollierten sie und nahmen den Kindern alles weg, was sie noch hatten“, erinnert sich Iskra Schubrikowa, die in einem dieser Waisenhäuser aufwuchs. Ihr Vater, ein Parteimitarbeiter aus Nowosibirsk, wurde erschossen.

Parteifunktionäre betrieben auch ideologische Arbeit mit den Kindern von Verurteilten und hetzten sie gegen ihre Eltern auf. Bei vielen Kindern wurden die Vornamen und Nachnamen geändert.

ALSchIR-Gedenkkomplex bei Astana

In einem Artikel über Waisenhäuser auf der offiziellen Website des Museumskomplexes ALSchIR heißt es, dass in der dem Lager am nächsten gelegenen Einrichtung die toten Kinder im Winter nicht begraben wurden – der Boden war zu hart gefroren, um Gräber auszuheben. Daher wurden die Leichen der Kinder bis zum Frühjahr in Holzfässern aufbewahrt und dann in einem Gemeinschaftsgrab beigesetzt.

Berühmte Gefangene

Eine der berühmtesten Häftlinge des ALSchIR war Rachil Messerer-Plisezkaja, eine sowjetische Filmschauspielerin (die unter dem Künstlernamen Ra Messerer auftrat) und Mutter von Maja Plisezkaja, der legendären sowjetischen Ballerina. Ihr Ehemann Michail wurde verurteilt, weil er mit revolutionären Zellen in Verbindung stand. Rachil verbrachte etwas mehr als ein Jahr im Lager und wurde dann in eine freie Siedlung in dem Dorf Tschimkent verlegt, wo sie als Tanzlehrerin arbeitete.

Gefangene von ALSchIR Rachil Messerer-Plisezkajaa mit ihren Kindern

Aschkhen Nalbandjan ist eine weitere berühmte Persönlichkeit. Die Mutter des berühmten sowjetischen Dichters Bulat Okudschawa wurde 1939 zum Punkt 26 geschickt, nachdem ihr Mann unter der Beschuldigung verhaftet worden war, den Trotzkismus unterstützt zu haben. Der 14-jährige Bulat wurde allein zurückgelassen und ging drei Jahre später als Freiwilliger an die Front, in der Hoffnung, dass dies das Schicksal seiner Mutter irgendwie erleichtern würde. Aschkhen selbst konnte jedoch erst 1947 nach Moskau zurückkehren, glaubte jedoch immer noch an die Partei.

Die Gegenwart

Heute befindet sich auf dem Gelände des ALSchIR eine Gedenkstätte für die Opfer der Repressionen. Vom Lager selbst ist fast nichts mehr übrig, aber es gibt ein Museum auf dem Gelände, in dem kleinere Nachbauten der Baracken zu sehen sind. Sie sind aus dem gleichen Material wie damals gebaut – aus Lehm.

Ein Mahnmal für die Opfer der Repressionen

Außerdem gibt es eine Kopie eines Waggons für den Transport von Gefangenen. Und auch das Denkmal Arka skorbi (dt.: Trauerbogen) – laut dem Museum ein Symbol für „den Eingang zum heiligen Land, wo sich die beiden Welten – die der Lebenden und die der Toten – treffen“.

>>> Abkürzung für Grausamkeit: Was war der GULAG?

>>> Aufarbeitung der Geschichte: Was wurde aus den sowjetischen Gulag-Lagern? (FOTOS)

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