Andrej Swjaginzew: „Die Oscar-Nominierung ist ein Durchbruch“

Andrej Swjaginzew: "Wenn das Rechtssystem in einem Staat nicht mehr funktioniert, dann wird der Staat zur Räuberbande." Foto: AFP/East News

Andrej Swjaginzew: "Wenn das Rechtssystem in einem Staat nicht mehr funktioniert, dann wird der Staat zur Räuberbande." Foto: AFP/East News

Das beste Drehbuch bei den Filmfestspielen in Cannes und für der beste Film bei den Londoner Filmfestspielen, das ist die bisherige Bilanz von Andrej Swjaginzews Film „Leviathan“. Nun hat er Chancen, für den Oscar nominiert zu werden. Im Interview mit RBTH erzählt er, warum er diesen Film gemacht hat.

Der Film „Leviathan" des russischen Regisseurs Andrej Swjaginzew hat dieses Jahr den Preis für das beste Drehbuch in Cannes erhalten und wurde für den Oscar nominiert. Vor Kurzem wurde der Film auch beim Film Festival in London ausgezeichnet. Der Regisseur spricht im Interview mit RBTH über die Oscar-Nominierung, den Rechtsstaat und das aussterbende Autorenkino in Russland.

RBTH: „Leviathan" basiert auf der Geschichte des US-Bürgers Marvin Heemeyers, der sich dem Machtapparat Staat widersetzte. Was war für Sie so interessant an der Geschichte, dass sie sie für Russland adaptiert haben?

Andrej Swjaginzew: Marvin Heemeyer war Besitzer einer Reparaturwerkstatt. Als auf dem Gelände eine Zementfabrik errichtet wurde, war Heemeyer dagegen, denn die Zufahrt zu Heemeyers Werkstatt wurde durch die Fabrik blockiert. Heemeyer war verzweifelt und zerstörte daraufhin mehrere Gebäude seiner Stadt mit seinem Bulldozer. Anschließend brachte er sich um. Von der Geschichte, die sich in den USA zugetragen hatte, hörte ich 2008. Ich war schockiert. Wie konnte es in einem Rechtsstaat dazu kommen, dass jemand seine Rechte auf diese Weise verteidigen musste, dass er so sehr Willkür ausgesetzt war? In den USA gab es doch die Möglichkeit, vor Gericht zu ziehen. Sollte das heißen, dass doch nicht alles so rosig war, wie es schien?

Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass alle Staaten ähnlich funktionieren und überall Willkür herrschen kann. Der Gedanke ist banal, aber er hat mich schockiert. In Augustinus „Vom Gottesstaat" bin ich kürzlich auf diese Passage gestoßen: „Was sind die Staaten ohne Gerechtigkeit anderes als große Räuberbanden?" Beides sind menschliche Gemeinschaften mit einem Anführer und fest geregelten Beziehungen. Sie unterscheiden sich nur durch die Rechtsordnung. Wenn das Rechtssystem in einem Staat nicht mehr funktioniert, dann wird der Staat zur Räuberbande. Nur wenn jeder Mensch das Recht hat, sich vor Gericht zu verteidigen, und nur wenn alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind, ist das ein idealer Staat. Das bestätigte mich in meiner Meinung, dass Thomas Hobbes im „Leviathan" den Staat zu Unrecht

idealisierte. Man kann ein ideales Modell auf dem Papier schaffen, aber wenn ein Mensch mit all seinen Unzulänglichkeiten und Bösartigkeiten dazukommt, dann kann sich jedes Ideal umkehren. Dann gibt es keinen Gesellschaftsvertrag mehr, sondern einen Teufelspakt. Für eine vermeintliche soziale Sicherheit gibt der Mensch seine Freiheit auf.

Was halten Sie von der heute vorherrschenden Meinung, dass es Geistigkeit nur in Russland, aber nicht im Westen gibt?

Geistigkeit ist ein metaphysischer Begriff, man kann alles Mögliche damit erklären und rechtfertigen. Es wäre leichter, von Geistigkeit zu reden, wenn das Rechtssystem in unserer Heimat funktionierte. Rechtsstaatlichkeit halte ich für sehr wichtig, denn nur in einem Rechtsstaat kann man sich geschützt fühlen. Und nur in einem unversehrten Körper kann ein gesunder Geist wohnen. Aber wenn man sein Haus verlässt und sich permanent in Gefahr vermuten muss, weil man weiß, dass die Polizei einen nicht schützen wird, dann ist es sinnlos, von seelischer Gesundheit oder Geistigkeit zu sprechen.

Bisher wurden von Russland immer epische Filme für die Oscar-Nominierung als bester ausländischer Film vorgeschlagen. „Leviathan" ist ein Sozialdrama. Wie erklären Sie sich diesen Sinneswandel?

Ich halte das für einen Durchbruch. Die Nomenklatura konnte sich nicht mehr durchsetzen, die ewige und allmächtige russische Vetternwirtschaft funktionierte nicht. Ich sehe zwei Gründe dafür, der erste: Alexander Rodnjanskij, Produzent von „Leviathan", hat sehr umsichtig gehandelt. Er hat alles getan, um den Film so vielen Mitgliedern des Auswahlkomitees wie möglich zu zeigen. Der zweite Grund: Die Zusammensetzung des Komitees

wurde verändert. Zum Komitee gehören jetzt weniger Personen, die von der Nomenklatura abhängig sind. Die neuen Mitglieder sind freie Persönlichkeiten, die ihre eigene Meinung sagen. Sie sind weniger befangen.

Sie drehen Filme, deren Ziel nicht der kommerzielle Erfolg ist und die nicht für ein breites Publikum gedacht sind. Dennoch mögen sehr viele Ihre Filme. Sie gelten als intelligent und anspruchsvoll, sie erinnern an Arthouse-Filme. Wo finden Ihre Filme mehr Beachtung – in Russland oder in den USA?

In den USA gibt es viele Kinos mit insgesamt etwa 40 000 Leinwänden. Rund 400 davon zeigen Autorenkino. Im Kino „Film Forum" in New York lief mein Film „Elena" parallel zu Renoirs „Die große Illusion". Darauf war ich stolz. In Russland gibt es zu wenige Kinos und auch zu wenige nicht-kommerzielle Kinos, die anspruchsvolle Filme zeigen. Die russische Filmindustrie ist unterentwickelt und zeigt wenig Augenmaß.

Es ist nicht die Schuld des Zuschauers, dass er das Interesse an Autorenfilmen verliert. Bei der TV-Ausstrahlung von „Elena" zum Beispiel war das Zuschauerinteresse sehr groß. Ins Kino gehen russische Erwachsene aber eher selten. Und die jungen Zuschauer wollen Entertainment. Ich hoffe, dass ich mit „Leviathan" Zuschauer aus allen Altersgruppen anspreche, die sich den Film im Kino anschauen wollen.

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