Ljudmila Ulizkaja: „Eine Orientierung nach Europa wäre fruchtbarer.“ Foto: East News
RBTH: Sie gehören zu den meistgelesenen russischen Autoren im Ausland. Womit hängt das zusammen?
Ljudmila Ulizkaja: Das ist genau genommen keine Frage an eine Schriftstellerin, sondern an die Marketingabteilung, wo man die Nachfrage nach bestimmen Produkten analysiert und sich mit der Verkaufsförderung befasst. Mich als Autorin interessiert diese Frage nicht besonders.
Aber es stimmt, meine Bücher werden gelesen. In Russland und im Ausland. Mir hat allerdings noch niemand erklärt, warum sie in Ungarn sehr gut ankommen, in Holland dagegen nicht, und warum die Auflagen in Deutschland und in Frankreich sehr hoch sind, in den USA und in Spanien aber niedrig. Die Menschen erfahren ja auf der ganzen Welt ähnliches – sie
lieben, hassen und irren sich, entdecken Neues, bringen Opfer, vollbringen Heldentaten und begehen Verbrechen…
Warum manchmal sehr schlechte Bücher den Leser fesseln, sehr gute dagegen annähernd unbemerkt bleiben, weiß niemand. Und wie ich den relativen Erfolg meiner Bücher im Ausland einordnen soll, ist mir nicht klar. Vielleicht heißt das, dass sie gut sind? Oder im Gegenteil schlecht? Die größten Auflagen weltweit übrigens erreicht der Schriftsteller Paulo Coelho. Und als einen besonders guten Autor würde ich ihn nicht gerade bezeichnen, eher als unteres Mittelmaß.
Worauf führen Sie Ihre Beliebtheit in Deutschland zurück? Dort werden Ihre Bücher fast unmittelbar nach ihrem Erscheinen in Russland übersetzt …
Das ist wieder eine Frage an die Analysten. Wie mir jemand erzählte, stand dazu übrigens vor Kurzem in der „Literaturnaja Gaseta“, mein Erfolg im Westen hänge mit meinem guten Draht zum Institut für Übersetzung zusammen. Das amüsierte mich. Das wäre also eine mögliche Antwort auf Ihre Frage: Manche glauben, meine Beliebtheit hätte ich persönlichen Beziehungen zu verdanken.
Verstehen Sie sich als russische oder als europäische Schriftstellerin?
Als russische. Auch wenn das nicht allen gefällt.
Ich komme um die Frage nach der Politik nicht herum: Trennen Sie Politik, öffentliches Leben und Literatur?
Es wird wohl kaum jemanden auf der Welt geben, der diese drei Lebenssphären nicht voneinander trennt. Die Hierarchie liegt auf der Hand:
Über allem steht die Kultur in allen ihren Formen, unter ihr das öffentliche Leben, und die Politik, die den Anspruch erhebt, die Geschicke der Welt zu lenken, nimmt die unterste Stelle ein. Niemand weiß, ob Dante den Ghibellinen oder Guelfen nahestand und wer auf dem Papststuhl saß, als Leonardo da Vinci seine Aufträge ausführte… Politiker überschätzen ihre Rolle in der Regel stark, können aber den einfachen Leuten das Leben gründlich erschweren.
Was passiert Ihrer Meinung nach in Russland mit der Freiheit des Wortes? Gibt es sie in irgendeiner Form?
Zu sowjetischen Zeiten war es um die Freiheit des Wortes wesentlich schlechter bestellt. In der Literatur gibt es heute praktisch keine Zensur. Es gibt heute allerdings eine andere Form der Zensur, eine der kommerziellen Art. Mit ihr kann man besser leben.
Wir sind heute jedoch einem solchen „Informationslärm“ ausgesetzt, dass man das freie Wort leicht überhört. Aber wer es wahrnehmen will, hat dazu Gelegenheit. Bislang zumindest. Die allgemeinen Tendenzen sind nicht sehr erfreulich. Wir sollten uns jedoch vor Augen führen, dass an der Grenze niemand unsere Koffer nach „verbotener Literatur“ durchsucht. Und das ist ein Segen.
Unsere ausländischen Leser haben natürlich alle das Verfahren gegen Michail Chodorkowski verfolgt. Sie haben mit ihm während seiner Zeit im Gefängnis Briefe geschrieben. Ihre Dialoge und Briefwechsel wurden auch veröffentlicht. Glauben Sie, dass die Entlassung von Michail Chodorkowski Russland einen Schritt nach vorne gebracht hat? Würden Sie ihn bei einer Präsidentschaftskandidatur, wie er es selbst vor Kurzem angeboten hat, unterstützen?
Ich bin sehr glücklich über die Freilassung von Chodorkowski. Es wäre wunderbar, wenn noch ein paar Hundert Menschen, deren vermeintliche Straftaten nicht bewiesen sind, auf freien Fuß gesetzt würden. Die Freilassung von Chodorkowski würde ich nie als einen Schritt zurück oder nach vorne betrachten. Der Prozess war gespenstisch, vom Anfang bis zum Ende. Darüber werden (und wurden bereits) sehr interessante Bücher geschrieben. Eine Diskussion über den künftigen Präsidenten scheint mir allerdings nicht sinnvoll zu sein, wenn die Frage im Voraus entschieden ist.
Sie haben an dem Kongress „Ukraine – Russland: Dialog“ im April dieses Jahres in Kiew teilgenommen. Wie denken Sie über diesen Konflikt, wie und wann ist er lösbar? Unternehmen Sie etwas Konkretes im sozialen oder kulturellen Bereich, um eine Lösung voranzutreiben?
Es ist eine Pattsituation eingetreten. Und zwar für lange Zeit. Beide Seiten haben ziemlich viel dafür getan, diesen Prozess unumkehrbar zu machen. In der Kultur konnte ich keine radikalen Gegensätze feststellen. Mit Schriftstellern, Künstlern, Musikern und anderen kulturell engagierten Leuten kann man kluge und fruchtbare Gespräche führen. Die Sphäre der politischen Propaganda dagegen vermittelt das Bild einer Katastrophe – einer Eskalation des Hasses, gegenseitiger Schuldzuweisungen, des Misstrauens und des Argwohns. Offensichtlich gibt es eine Gruppe von Menschen, die sehr an einem Krieg interessiert ist.
Wir versuchen indes, Brücken zu bauen, die unsere Regierung sehr erfolgreich einstürzen lässt. Es gibt einige gemeinsame Literaturprojekte, an deren Umsetzung wir derzeit arbeiten. Aber das alles ist sehr schwer, man stößt auf viele Widerstände. Weder die ukrainische noch die russische Regierung zeigt an diesen kulturellen Brücken Interesse. Das ist sehr traurig. Bis dieses Loch gestopft ist, wird sehr viel Zeit vergehen. Ich fürchte, nicht nur eine Generation wird damit zu tun haben.
Noch ein paar Worte zur deutschsprachigen Literatur: 2008 wurden Sie mit dem Alexander-Men-Preis ausgezeichnet, 2014 mit dem Österreichischen Staatspreis für europäische Literatur, als erste russische Schriftstellerin. Was bedeuten diese Auszeichnungen für Sie?
Meine Arbeit wurde mittlerweile mit vielen Preisen ausgezeichnet. Besonders viel bedeutet mir die Medaille der Stadt Budapest. Dieser Preis stand für
einen eindeutigen Sieg der Kultur über die Politik. Wenn in einer Stadt, an deren Hauswänden noch die Spuren russischen Panzerbeschusses zu sehen sind, einer russischen Autorin dieser Preis verliehen wird, dann ist das ein Sieg der Kultur. Insbesondere angesichts der Tatsache, dass die russische Nachkriegspräsenz in Osteuropa noch leidlich zu spüren ist.
Was den Alexander-Men-Preis betrifft, so weiß ich diese Auszeichnung sehr zu schätzen. Ich kannte den mittlerweile nicht mehr lebenden Priester Alexander und verehrte ihn zu seinen Lebzeiten. Heute ist er ein Gerechter und Beter für Russland.
Die Verleihung des Österreichischen Staatspreises für europäische Literatur ist eine große Ehre. Es reicht ein Blick auf die Liste der Autoren, die ihn erhalten haben. Heute, da Russland so bestrebt ist um eine Annäherung an Asien, glaube ich in alter Tradition, dass eine Orientierung nach Europa für unser Land fruchtbarer wäre. Aber meine Meinung spielt da keine Rolle.
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