Alles, was Sie über Joseph Brodsky wissen wollen – in sieben Fragen

Anefo/Croes, R.C./Dutch National Archives, The Hague, ANEFO (CC BY-SA 3.0)
Wer ist Joseph Brodsky und warum gilt er als großer russischer Dichter?

Seine innere Freiheit und gleichgültige Haltung gegenüber dem System verhalfen dem Dichter zu einer völlig neuen Art, über die zentralen Fragen der menschlichen Existenz zu sprechen.

  1. Wofür ist Brodsky berühmt?

Der mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Dichter Joseph Brodsky ist auf diesem Dateifoto vom 10. Dezember 1987 zu sehen, als er den Preis vom schwedischen König Carl XVI. Gustaf bei der Nobelpreisverleihung in Stockholm entgegennimmt.

Brodsky war ein Dichter, Essayist und Übersetzer. Seine Poesie zeichnet sich durch eine grundlegend neue Sprache aus. An seinen Themen und seinem Stil nahm der Staat Anstoß: Er wurde in der Presse schikaniert, verurteilt und wegen „parasitärer Lebensweise“ in die Verbannung geschickt, sein Werke wurde nicht veröffentlicht, und später verließ er die UdSSR. Im Ausland beliebt, wurde Brodsky Professor an mehreren amerikanischen Universitäten und erhielt 1987 den Nobelpreis für „ein umfassendes literarisches Werk, das sich durch Klarheit des Denkens und poetische Intensität auszeichnet“.

  1. Wie verlief Brodskys Kindheit und Jugend?

Er wurde am 24. Mai 1940 geboren. Die Mutter des Dichters war Buchhalterin und sein Vater Fotoreporter, die Familie lebte in Leningrad. Am 8. September 1941 begann die Belagerung, aber nach dem ersten Blockadewinter, im April 1942, wurden Joseph und seine Mutter (sein Vater wurde an die Front eingezogen) nach Tscherepowez evakuiert. Nach Aufhebung der Blockade kehrten sie in ihre Heimatstadt zurück.

Josepf Brodsky mit seiner Mutter Maria Wolpert, 1942.

Brodsky lernte nur sieben Jahre (damals das obligatorisches Minimum) und verließ zu Beginn der 8. Klasse die Schule, um eine Fräser-Lehre in einer Fabrik aufzunehmen. Der Dichter erinnerte sich daran als „die erste freie Handlung“ in seinem Leben.

Der Poet, Essayist und Brodskys Freund Lew Losew sagte, dass Brodsky in seiner Kindheit „übermäßig beeinflussbar war, oft Konflikte und sogar hochemotionale Lebenssituationen nicht aushalten konnte – aus einem Übermaß an Gefühlen konnte er mitten während eines Familienfestes aufspringen und von zu Hause weglaufen.“

Brodsky hatte schon in seiner frühen Kindheit eine Vorliebe für Literatur, las aber nur Prosa. Erst im fortgeschrittenen Alter begann er sich für Poesie zu interessieren. Der Dichter selbst sagte, in der Schule habe er nur die Pflichtliteratur gelesen und seinen ersten Gedichtband mit 16 Jahren auf Anraten seiner Mutter in die Hand genommen. Im Alter von 17 Jahren las er ständig Gedichte und entdeckte schnell sein dichterisches Talent. Im selben Alter schrieb er eines seiner berühmten Gedichte, Proschtschaj (Lebe wohl).

  1. Warum hatte Brodsky ein angespanntes Verhältnis zum Staat?

Das Verhalten und das Werk des Dichters entsprachen nicht den gesellschaftlichen und ästhetischen Vorstellungen der Sowjetunion. Er wechselte häufig den Beruf: Nach der Fabrik arbeitete er als Gehilfe in einem Leichenschauhaus, als Heizer in einer Banja, als Matrose auf einem Leuchtturm und ging auf geologische Expeditionen. Außerdem veröffentlichte der Dichter seine Gedichte im Eigenverlag, kommunizierte mit „informellen“ Persönlichkeiten, schrieb für sowjetische Verhältnisse „nichtsozialistische“, für normale Arbeiter unverständliche Poesie. Gleichzeitig war Brodsky im Grunde kein Dissident: Er kritisierte weder das sowjetische System noch forderte er dessen Sturz, sondern war eher ein distanzierter Nicht-Widerständler. Wie Brodsky selbst sagte: „Für mich ist es gleichgültig, ob es eine Partei gibt oder nicht; für mich gibt es nur Gut und Böse.“

Brodsky in den späten 50er- und frühen 60er-Jahren.

Dieser Haltung gegenüber dem System und der unpolitische Charakter waren Grund genug für seine Verfolgung. 1963 veröffentlichte die Zeitung Wetschernyj Leningrad einen Artikel, der Brodskys Dichtung scharf kritisierte und ihn als Parasiten bezeichnete. Bald darauf wurde er wegen parasitärer Lebensweise, die strafrechtlich verfolgt wurde, verurteilt und in das Dorf Norenskaja in der Region Archangelsk im Norden verbannt.

  1. Warum hat Brodsky die UdSSR verlassen?

Nach seiner Rückkehr aus der Verbannung im Jahr 1965 befand sich der Dichter in einer halblegalen Situation: Er wurde nicht veröffentlicht, konnte nicht in den Schriftstellerverband aufgenommen werden und durfte keiner anderen Tätigkeit nachgehen – er schlug sich mit seinen Übersetzungen und Kindergedichten durchs Leben. Gleichzeitig wuchs Brodskys Popularität im Ausland und 1970 wurde sein Buch Ostanowka w pustynje (dt.: Zwischenstopp in der Wüste) in New York veröffentlicht. Es wurde mit Hilfe ausländischer Freunde veröffentlicht, die die Manuskripte des Dichters aus der UdSSR geschmuggelt hatten. Die Zahl seiner Unterstützer im Ausland nahm immer mehr zu; er begann Einladungen nach Italien, England, in die Tschechoslowakei und nach Israel zu erhalten.

Anstatt den unberechenbaren Dichter im Auge zu behalten, beschloss man, ihm die Erlaubnis zu geben, ins Ausland zu gehen. Auf Brodskys eigene Beteuerungen hin wurde er gezwungen, das Land zu verlassen, wobei ihm angedeutet wurde, dass für ihn „eine heiße Zeit“ anbrechen werde, wenn er diese Gelegenheit nicht ergreifen würde. Brodsky stimmte zu und ging 1972 nach Wien, von wo aus er später in die Vereinigten Staaten übersiedelte. 

  1. Wie und worüber hat Brodsky geschrieben?

„...Es ist unmöglich, Joseph Brodskys traurige Metaphysik nachzuerzählen. Abgesehen davon, dass man eine ethische und praktische Schlussfolgerung über die menschliche Hybris ziehen kann: dass es nichts Talentloseres gibt. Denn Persönlichkeit ist ein imaginärer Wert, wie die Wurzel aus minus eins. [...] traurige Demut ist das letzte Wort Brodskys“, schrieb der Literaturkritiker Samuil Lurie über Josephs Poesie. Für ihn ist das Hauptmotiv des Dichters die Freiheit, die in Entfremdung umschlägt.

Hier ist eines von Brodskys Gedichten aus dem Jahr 1976:

"Es ist nicht so, dass ich den Verstand verliere, ich ward nur müde über’n Sommer.

Geh ich zur Kommode, um ein Hemd zu holen, ist der Tag verloren.

Ich wünschte, der Winter käme und feste alles hinweg –

die Städte, die Menschen, aber zuerst das Grün.

Ich werde unbekleidet schlafen oder ein unbekanntes Buch zufällig aufschlagen

und lesen, während der Rest des Jahres,

wie ein Hund, der vor einem Blinden flieht,

den Asphalt an der richtigen Stelle überquert. Freiheit ist

ist, wenn man den Vatersnamen des Tyrannen vergisst,

und der Speichel in deinem Mund süßer ist als Halwa aus Shiraz,

und obwohl dein Hirn verdreht ist wie das Horn eines Widders,

tropft nichts aus dem blauen Auge.“

Im Ausland wurde Brodsky vor allem als Essayist bekannt – er zog es vor, seine Gedichte auf Russisch zu schreiben, bevor er sie ins Englische übersetzte. Eine eigene Rolle in seiner Poesie kommt der Sprache selbst zu Teil – nicht ihrer Funktion als Ausdruck des Denkens des Autors, sondern der Sprache als eigenständigem Phänomen.

Wie die sowjetische Dichterin Bella Achmadulina später sagte: „Er kann, wie in sich selbst, Russisch produzieren, und es gelingt ihm absolut. Er muss nicht hören, was um ihn herum gesprochen wird.... Er reproduziert das selbst. Er selbst wird zu einer fruchtbaren Kraft. Es ist, als sei er der Garten und der Gärtner selbst. [...]. Losgelöst von der Alltagssprache wird er selbst zum fruchtbaren Boden der russischen Sprache. Brodsky hat eine neue poetische Sprache geschaffen, die sich von jeder Art von Formalisierung und Rahmen befreit – das Vokabular und die Syntax des Dichters sind durch nichts begrenzt.“

  1. Was für ein Mensch war Brodsky?

Selbst die engsten Freunde des Dichters gaben zu, dass er keinen einfachern Charakter hatte. Lew Losew erinnerte sich in einem Interview: „In seiner Jugend sprach er oft mit beleidigender Geradlinigkeit, war gehässig. Im Laufe der Jahre wurde er natürlich immer höflicher und taktvoller. Darüber hinaus lebte er in einem unregelmäßigen Rhythmus, was anderen Menschen Unannehmlichkeiten und Kummer bereiten konnte, weil jene, die in einem normalen menschlichen Rhythmus lebten, ihn als unbeständig empfanden. Gleichzeitig erkannten alle, dass Brodsky einen stoischen Charakter hatte, er hielt sich immer aufrecht, passte sich nie den Umständen an, war unabhängig in seinem Urteil und trotz seines Talents sehr bescheiden.“

Eines der zentralen Ereignisse in Brodskys Leben war seine Bekanntschaft mit Marina Basmanowa, einer jungen Künstlerin, die der Dichter offenbar sein Leben lang nicht vergessen konnte. Ihre schmerzhafte Beziehung dauerte sechs Jahre, von 1962 bis 1968 – die Trennung erfolgte kurz nach der Geburt seines Sohnes. Viele der Gedichte sind Marina gewidmet, versteckt in der Widmung unter den Initialen M. B., das letzte Gedicht ist auf 1989 datiert. Brodsky heiratete 1990 zum ersten und letzten Mal – Maria Sozzani, eine italienische Aristokratin, Nachfahrin russischer Einwanderer. Drei Jahre später bekamen sie eine Tochter, Anna.

Josepf Brodsky mit seiner Frau und Tochter, 1995.

Trotz seines komplexen Charakters, gab es (wie seine Freunde feststellten) Geschöpfe, die Brodsky von ganzem Herzen liebte – Katzen. Diese Liebe entwickelte er schon als Kind: In seinem autobiografischen Essay In a Room and a Half erinnert er sich, dass er und sein Vater sich gegenseitig kleine Katze und große Katze nannten.

  1. Wie endete Brodskys Leben?

Bereits in jungen Jahren hatte der Dichter Herzprobleme (seinen ersten Herzinfarkt erlitt er sehr jung in seiner Arrestzelle nach seiner Verhaftung). Der Blockade-Winter in Leningrad in seiner frühen Kindheit, der Hunger und die Kälte der Kriegs- und Nachkriegsjahre sowie sein explosiver Charakter, seine Verhaftung, die Verbannung und die erzwungene Emigration haben wahrscheinlich auch Brodskys Gesundheit beeinträchtigt. Außerdem rauchte er exzessiv und konsumierte starken Kaffee. Er unterzog sich mehreren Herzoperationen und erlitt drei Herzinfarkten. Am 27. Januar 1996 starb er in seinem Arbeitszimmer und wurde in seiner Lieblingsstadt Venedig beigesetzt.

Josepf Brodsky mit seiner Katze Missisipi, 1987.

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