Foto: RIA Novosti
Das Kochbuch von Sofia Andrejewna Tolstaja ist mehr als nur eine Sammlung von Familienrezepten: Es gleicht eher einer Studie der kulinarischen Gebräuche im Hause Tolstoi, indem es Einblicke in die Natur des Schriftstellers und die Traditionen seiner Zeit gibt.
Blättere man im Buch, so verstehe man, dass „der ganze Alltag mit Schlichtheit und Aufrichtigkeit getränkt war", urteilt Olga Sjutkina, die als Historikerin an den Kommentaren zur Ausgabe gearbeitet hat. „Wir finden hier keine extravaganten Gerichte der hohen Gastronomie. Das sind gewöhnliche und sättigende Speisen für den Alltag, wie zum Beispiel Maultaschen, Spiegelei, Kartoffelpudding, Pilzsuppe oder Lebkuchen."
Julia Wronskaja, Leiterin der Abteilung für internationale Projekte in Leo Tolstois Museumsvilla Jasnaja Poljana findet, dass die Ernährung der Familie sehr typisch für ihre Epoche sei, „mit der einzigen Einschränkung, dass sie wohl ein wenig einfacher und bescheidener war als in Adelsfamilien desselben Rangs", denn in der Familie Tolstoi sei man nicht zu üppigen Mahlzeiten geneigt gewesen. „Von den kulinarischen Charakterzügen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts merkt man den großen Einfluss der französischen Küche, der sich auch im Kochbuch von Sofia Tolstaja bemerkbar macht. Man betrachte nur einige der Titel: ‚Äpfel à la Dophine', ‚Grüne Bohnen á la maître d'Hotel', die Soße ‚pomme d'amour' oder das ‚Hühnchen à la majonaise'", bemerkt Wronskaja.
Am interessantesten sind wohl die Rezepte, die mit den Namen von Freunden und Verwandten der Tolstois verbunden sind. Von diesen gibt es im Kochbuch eine Menge: Kuchen des Dr. Anke, ein Zitronenmalztrunk von Marusja Maklakowa oder Apfelkonfekt der Marie Fet. „Hier ist sie, die wahre Geschichte. Hinter jedem der Rezepte steht eine Anekdote, manchmal gar eine ganze Seite des russischen Kulturlebens", ist Olga Sjutkina überzeugt.
Das berühmteste Gericht im Hause Tolstoi war der genannte Ankekuchen mit Zitronenfüllung. Er ist nach Dr. Anke benannt, der mit der Mutter von Sofia Andrejewna befreundet war und das Rezept an die Familie weitergab. „Seit ich denken kann, wurde an allen feierlichen Anlässen, zu großen Festen und an Namenstagen immer und unabänderlich als Nachtisch der Ankekuchen serviert. Ein Mittagessen war ohne ihn kein Mittagessen und eine Feier keine Feier", schrieb Ilja, der Sohn des Tolstoi-Ehepaars, in seinen Memoiren.
Der Ankekuchen. Foto: Museumsvilla Jasnaja Poljana
Ilja Lwowitsch erinnerte sich, dass schließlich „alle Familientraditionen, und viele von ihnen hatte Mama in unser Leben eingebracht, mit ‚Ankekuchen' bezeichnet wurden. Papa hatte den ‚Ankekuchen' manchmal gutmütig verspottet, denn dieser Kuchen verkörperte die Gesamtheit von Mamas Lebensgewohnheiten. In meiner Kindheit konnte er diesen Kuchen doch immer nur wertschätzen."
Doch bald gerieten die Lebensgewohnheiten ins Schwanken. Der gesamte Stil in Leben und Haushaltsführung, der bislang als richtig empfunden wurde, befremdete Tolstoi. Es spiegelte sich natürlich auch im Essen wider. Die letzten 25 Jahre seines Lebens war Leo Nikolajewitsch Vegetarier aus moralischen und philosophischen Überzeugungen, doch verzichtete er nicht auf Milchprodukte und Eier.
„Es war einfach so, dass Eier für ihn ein Grundnahrungsmittel waren", kommentiert Julia Wronskaja. „Im Frühstücksmenü von Tolstoi findet man sie in verschiedenster Ausführung: ausgelassenes Spiegelei, Eier mit Tomaten, zusammengeklappter Eierkuchen, Spiegelei mit Champignons, umgerührtes Spiegelei mit Dill, weichgekochte Eier, Erbsen mit Eiern, ausgelassenes Spiegelei mit Eierröstbrot, Bohnen und Brüssel mit Eiern – ich habe etwa 15 Eiergerichte gefunden."
Der Apfelkuchen von Sofia Tolstaja. Foto: Museumsvilla Jasnaja Poljana |
Sofia Andrejewna unterstützte Tolstoi nicht in seinen neuen Anschauungen, bestellte aber beim Koch nun stets zwei Varianten des Mittagessens: vegetarisch für den Ehemann und die Töchter, die seinem Beispiel folgten, und eine bescheidene nicht-vegetarische für sich und die Söhne. Sie war ständig mit der Frage beschäftigt, wie man die Gesundheit ihres nun betagten Ehemanns stärken und welches Essen man ihm vorsetzen könnte, da er nicht nur durch seine Suche nach der inneren Ordnung geistig geplagt war, sondern sein Körper zudem auch noch unter einer schwachen Verdauung litt.
„Es ist schwierig, ihn, den kranken Vegetarier, zu füttern. Angestrengt muss ich mir Speisen überlegen. Heute gab ich ihm Suppe mit Pilzen, mit Reis, Spargel mit Artischocken, Grießbrei in Mandelmilch und gekochte Birne", schrieb sie 1897 einmal in ihr Tagebuch.
„Mama war immer besorgt, dass das Essen für Vater leicht ist, und erhob die Frage der Ernährung fast schon zu einem Kult. Täglich kam der Koch Semjon Nokolajewitsch zu ihr und sie besprachen lange das Menü", erinnert sich die jüngste Tochter Tolstois Alexandra an die Ereignisse. Wie sie berichtet, war nicht jedes Süppchen, das für den Schriftsteller bestimmt war, immer vegetarisch: War Tolstoi krank, taten sich seine Frau und sein Koch zusammen und gossen Rinderbrühe in die Pilzsuppe." Sie schmunzelt: „Damit wird etwas verständlicher, wieso seine Frau und er sich zum Ende seines Lebens hin nicht mehr so gut verstanden, nicht wahr?"
Heute kann man Gerichte wie den Ankekuchen aus dem Kochbuch der Tolstois in der Villa Jasnaja Poljana probieren, wo seit einiger Zeit der Erforschung und Veranschaulichung der kulinarischen Traditionen der Familie großer Wert beigemessen wird. So wurde im August auch eine kulinarische Tour gestartet, die sich bereits großer Beliebtheit erfreut, und die Herausgabe eines Kochbuchs ist eine weitere Initiative des Museums.
Leser werden das russische Buch in zwei Versionen erhalten können: Alle 162 Rezepte mit zahllosen Kommentaren von Historikern, anderen Wissenschaftlern und Köchen werden als Druckvariante erscheinen, während eine auf knapp 50 Rezepte verkürzte, aber ebenso kommentierte, Version kostenlos als App für iOS zur Verfügung gestellt wird.
Eine englischsprachige Version ist auch geplant: Der Projektkoordinatorin Julia Wronskaja zufolge sind alle Rezepte bereits übersetzt, nun suche das Museum eine Möglichkeit der Finanzierung für den Launch einer englischsprachigen App.
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