Vor meinem Praktikum in Russland hatte ich die Möglichkeit, für vier Tage in Moskau bei einer Gastfamilie zu Besuch zu sein. Die Wohnung meiner Gastschwester Polina befand sich in einem Moskauer Vorort und es dauerte etwa anderthalb Stunden, bis ich beim Treffpunkt meiner Gruppe ankam. Ich musste jeden Morgen pünktlich sein und Polina begleitete mich immer. Eines Morgens waren wir schon etwas früher da und Polina sagte: „Es gibt einen Ort, den ich dir zeigen möchte. Du kannst nicht wegfahren, ohne eine der schönsten Stationen der Moskauer U-Bahn gesehen zu haben. Sie ist zwar etwas weit von hier entfernt, aber lass sie uns trotzdem anschauen.“ Die Komsomolskaja Station war definitiv den Besuch wert.
Am Ende kamen wir etwa zehn Minuten zu spät zum vereinbarten Treffpunkt. Polina war mit der japanischen Kultur vertraut und verstand unsere Denkweise ziemlich gut, war jedoch immer noch russisch: Selbst wenn die Zeit knapp ist und es etwas Besonderes gibt, das man einem Freund zeigen möchte, hat die Disziplin keine Chance dagegen anzukommen.
Man nahm mir mein Zuspätkommen zwar übel, dennoch wurde mir klar, dass der Besuch dieses Ortes mit Polina mir mehr bedeutete, als pünktlich vor Ort zu sein, auch wenn mir meine Verspätung peinlich war. Nichtsdestotrotz haben Russen manchmal Einstellungen, die bei den Japanern in Vergessenheit geraten sind – zum Beispiel nicht nur die gesellschaftliche Rolle, die man hat, auszufüllen, sondern auch als Mensch zu agieren, eigene Entscheidungen zu treffen und das zu tun, was man möchte, oder das bleiben zu lassen, was man nicht tun möchte. Ich glaube, dass die Russen auf diese Art und Weise ihre Liebe zu den Menschen ausdrücken.
In Russland fühlt sich niemand von Ausländern gestört. Den Russen ist viel mehr wichtig, was der- oder diejenige sagen möchte und nicht, wie die Person das tut. Wahrscheinlich liegt es daran, dass in Russland viele ethnische Gruppen zusammenleben und es schwierig ist, diese von einem Ausländer zu unterscheiden. Auch ich wurde trotz meines japanischen Aussehens beim Einkaufen irrtümlich für einen Mitarbeiter des Einkaufszentrums gehalten und wenn ich in Moskau die Straße entlang gehe, fragen mich die Leute oft nach dem Weg.
In Japan hingegen fühlt man sich unwohl, wenn man mit einem Ausländer spricht. Man ändert sein normales Sprechtempo und fragt ängstlich, ob man lieber Englisch sprechen sollte oder macht sich Gedanken darüber, einander misszuverstehen. Als ich jedoch als Fremder auf Russen traf, die ohne jegliches Unbehagen mit mir umgingen und normal mit mir Russisch sprachen, verlor ich zunehmend meine Angst, bei der Wortwahl oder der Aussprache Fehler zu machen.
Japaner scheuen sich normalerweise etwas zu tun, womit sie in der Öffentlichkeit auffallen könnten. Russen tun das nicht. Ist es möglich, hilfsbereit und gleichzeitig scheu zu sein? Ich glaube nicht.
Einmal fiel beispielsweise eine Dame im Zug hin, als ihre Tasche noch zwischen den Türen, die gerade schlossen, klemmte. Während ich darüber nachdachte, ob ich etwas unternehmen soll, kamen sofort zwei Männer zu Hilfe, öffneten die Türen und zogen die Tasche der Dame heraus. Ein anderes Mal half ein Passant einer Frau mit einem Kinderwagen in den Bus einzusteigen – etwas, das in Russland sehr üblich ist.
Auch in einer Bank oder bei der Post, wo man für gewöhnlich Schlangestehen muss, kann man durchaus die Frage „Wer ist der Letzte?“ und die darauf folgende Antwort „Das bin ich“ hören. In Japan hingegen gilt es als peinlich, mit Fremden zu sprechen oder andere auffällige Bewegungen an öffentlichen Orten zu machen. In Russland dagegen gehört es zum Alltag dazu und ist somit nichts Besonderes. Eines Tages war ich derjenige, der den Leuten in der Warteschlange die Frage, wer der letzte sei, stellte und ihnen sogar zurief: „Ich werde kurz einen Umschlag kaufen, komme aber bald zurück, also halten Sie mir bitte den Platz frei.“
Bevor ich nach Russland kam, dachte ich, dass die Jahreszeiten dort nur schwach ausgeprägt wären und es sogar im Sommer kalt sei, so dass die Leute das ganze Jahr über nur Borschtsch und Piroschki essen würden. Doch in den zehn Monaten, die ich in Russland verbringen durfte, stellte ich fest, dass die Unterschiede zwischen den einzelnen Jahreszeiten noch auffälliger waren, als in Japan.
Ich kam im Herbst zum ersten Mal nach Moskau. Das Laub der Bäume in den Parks begann schon, rot, orange und gelb zu werden und überlappte sich mit dem blauen Himmel. Es war wirklich wunderschön. Zudem war Apfelsaison: Meine russische Gastmutter machte Bliny mit Bratäpfeln und Apfelmarmelade zum Abendessen. Dann kam der lange russische Winter – eine Zeit, in der die Sonne gefühlt nur sechs Minuten im Monat scheint. Die gefrorenen Teiche wurden zu Schlittschuhbahnen und Straßenkioske verkauften Glühwein, damit sich die Leute ein wenig aufwärmen konnten, während in der Stadt funkelnde elektrische Dekorationen angebracht wurden.
Zum Frühling hin wurden die Tage allmählich länger und im Sommer wurde es bereits um drei Uhr nachts draußen hell und erst um zehn Uhr abends wieder dunkel. Das Sonnenlicht, das in den Raum eindringt, war so hell, das man am Morgen verschwitzt aufwachte, weil es so heiß war und einen schon ein kleiner Spaziergang bereits ins Schwitzen brachte. Die Restaurants öffneten ihre Straßenterrassen, wo Leute sich unterhalten und kaltes Bier trinken konnten. In Japan indessen weicht die Zeit des Sonnenunter- und Sonnenaufgangs im Sommer und Winter nur etwa um eine Stunde ab. Der Sonnenschleier ändert sich das ganze Jahr nicht und sieht fast jeden Tag gleich aus. Nach meiner Russlandreise wusste ich das Sonnenlicht also noch mehr zu schätzen.
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