Zu Besuch in der Lenin-Bibliothek, einer der größten Büchersammlungen der Welt (PHOTOS)

Anton Belitskiy
Die Russische Staatsbibliothek, von den Russen liebevoll Leninka genannt, ist nicht nur ein Mekka für Studenten und Bücherwürmer. Sie ist ein literarisches Heiligtum und zudem Singlebörse für Intellektuelle.

Das Klicken der Kamera sorgt dafür, dass die Bibliotheksbesucher missbilligend von ihren Büchern aufschauen und sich der Quelle dieses unerwünschten Geräuschs zuwenden. „Ruhe bitte” steht hier an jeder Ecke. Der Hinweis ist so häufig wie das „Rauchen verboten”-Schild in Flugzeugen.

In dem Augenblick, indem wir mit unserer Fotoausrüstung auftauchen, stürzt sich schon das Aufsichtspersonal der Bibliothek von allen Seiten wie die Geier auf uns und verlangt, unsere Genehmigung zu sehen. Natürlich haben wir eine.  

Ein wenig Geschichte

Zu Beginn umfasste der Bestand der Bibliothek die private Sammlung von Manuskripten und seltenen Büchern des russischen Staatsmannes Graf Nikolai Rumjanzew. Auf persönliche Anordnung von Zar Nikolaus I. wurde 1828 in Sankt Petersburg das Rumjanzew-Museum gegründet, das später in das Paschkow-Haus, das sich außerhalb der Mauern des Moskauer Kremls befindet, umzog.

Nach der Revolution von 1917 erlebte die Bibliothek ihren Aufschwung. Gelder flossen von Sankt Petersburg nach Moskau und das Rumjanzew-Museum wurde das Hauptbuchlager des Landes. Nach und nach wurden neue Gebäude errichtet. Heutzutage beansprucht die Bibliothek einen ganzen Häuserblock für sich. Im Paschkow-Haus finden sich noch Noten, Manuskripte und Kartenmaterial.

Das Paschkow-Haus

Zu Sowjetzeiten wurde das Rumjanzew-Museum in Staatliche Lenin Bibliothek umbenannt. Die nahegelegene Metrostation, die 1935 eröffnet wurde, erhielt den Namen „Biblioteka imeni Lenina“ (Lenin Bibliothek).

In der Leninka taucht der Besucher in die Vergangenheit ein: in den grün gestalteten Sälen stehen Lesetische mit Tischtüchern, zahlreiche Lampen sorgen für Licht. Es erinnert noch vieles an sozialistische Zeiten, aber es wirkt sehr familiär.

In der Leninka ist immer etwas los. Im Eingangsbereich drängeln sich die Besucher. Die Bibliothek verfügt über mehrere Lesesäle mit Computerarbeitsplätzen. In endlosen Fluren verstecken sich zahllose Nischen mit Lesepulten. Über ein Transportband wird die Buchausgabe geregelt. Neben einem Italienisch-Selbstlernkurs liegt ein Lehrbuch über die Grundlagen der Buchführung und daneben ein seltenes Werk von Boris Pasternak.

Für einige Besucher ist die Bibliothek eine Pilgerstätte. Ein ritueller Ort mit alten Büchern und antiken Tischen und dem Duft der alten Welt, den die Holzschränke und die langen mit Parkett ausgelegten Flure verströmen. Es liegt Geschichte in der Luft. Wenn die grünen Lampen eingeschaltet sind, verleihen Sie den Räumlichkeiten etwas Magisches.

Ein schick gekleideter älterer Herr untersucht ein Manuskript mit einem Vergrößerungsglas, daneben sitzt eine streng aussehende Dame mittleren Alters, bestimmt eine Lehrerin. Neben ihr sitzt ein bärtiger Professor und einen Tisch weiter macht eine Gruppe von Studenten Selfies.  

Einige Zahlen

Der Bestand der Bibliothek umfasst 47 Millionen Werke in 367 Sprachen, darunter auch einige sehr seltene orientalische. Neben den Publikationen (die Bücherei erhält stets ein Exemplar aller in Russland gedruckter Werke) gibt es seltene Handschriften, Kunstdrucke, Fotomaterial, Landkarten, Noten, Gesetzestexte, Militärliteratur und, natürlich, Werke über die Kunst der Bibliotheksführung. In der Leninka findet sich zudem je ein Exemplar jeder seit 1951 angefertigten Dissertation.

Es gibt 36 öffentliche Lesesäle, Wi-Fi ist überall verfügbar. Jedes Jahr melden sich 100 000 neue Nutzer an. Die Angestellten haben Buch geführt: In jeder Minute betreten fünf Besucher die Bibliothek. Aktuell wird der Bestand der Leninka digitalisiert.

Die elektronische Bibliothek umfasst bereits 1,3 Millionen Dokumente. Sie ermöglicht darüber hinaus unter anderem den Zugriff auf die Onlinepublikationen von Cambridge University Press und Springer Publishing, auf weitere verschiedene Online-Bibliotheken und auf das JSTOR Archiv digitaler Magazine. Das komplette Angebot finden Sie auf der Website.

Tipps

Die Bibliothek steht jedem offen, der älter ist als 14 Jahre, ganz gleich, aus welchem Land. Das Angebot kostet nichts. Lediglich ein Identitätsnachweis (und für visapflichtige Interessenten der Reisepass und das Visum) muss vorgelegt werden.

Die Anmeldung dauert kaum zehn Minuten, Es wird ein Foto gemacht und wenig später erhält man einen Büchereiausweis in Form einer Plastikkarte. Inzwischen ist eine Anmeldung auch online möglich.

Bevor die Lesesäle betreten werden dürfen, müssen Jacken und größere Taschen oder Rucksäcke an der Garderobe abgegeben werden. Eine kleine Tasche und Laptops dürfen mitgenommen werden.

Die Bücherei ist täglich außer sonntags von 9 bis 20 Uhr geöffnet. Bei der Ausleihe muss mit Wartezeiten gerechnet werden. Manchmal dauert es sogar einige Stunden, bis ein Buch aus dem Lager beschafft werden kann. Wer nicht so viel Zeit hat, kann auch vorbestellen.

Die Leninka hat den Ruf, eine Singlebörse zu sein. Hier konnte man seinen zukünftigen Partner kennenlernen und sichergehen, dass er aus einer gebildeten Familie stammte. Einige besuchten die Bibliothek nur zu diesem Zweck. Wenn die Wände des Raucherzimmers der Leninka sprechen könnten, hätten sie wohl einiges zu erzählen. Denn dort trafen sich die Frischverliebten, die miteinander sprechen wollten, um nicht gegen das Schweigegebot zu verstoßen.  

Im Oskar prämierten Film „Moskau glaubt den Tränen nicht” sucht die Heldin in den Lesesälen nach ihrem Traummann. Dann kommt sie in das Raucherzimmer, wo ihr gleich zwei junge Studenten Feuer anbieten.

Noch immer fragen Besucher nach diesem Raum. Es gibt ihn jedoch nicht mehr. Mittlerweile gilt im gesamten Gebäude Rauchverbot. Doch nicht verzweifelt sein. Es gibt inzwischen eine sehr schöne Cafeteria. Wenn sich dort keine Seelenverwandten treffen, wo dann?

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