Mit dem Begriff Intelligenzija ist es kompliziert. Während es ursprünglich aus dem Lateinischen stammt, wurde das Wort erst durch die russische Sprache weltweit bekannt. Der Begriff bezieht sich auf alle Arten von gebildeten Menschen, aber er wird heutzutage verwendet, um missionarische Eiferer und Moralapostel zu beschreiben. Während viele die Intelligenzija als das Gewissen der Gesellschaft loben, verachten andere sie als von der Realität losgelöst; und wieder andere, wie Wladimir Lenin, haben sie als „Sch..ße“ bezeichnet.
Wenn in Russland jemand das Wort „Intelligenzija“ erwähnt, wird man sich wahrscheinlich Folgendes vorstellen: einen gutaussehenden Menschen aus der Mittelschicht, vielleicht mit einem Abschluss in Geisteswissenschaften, einen, der über Weltgeschehen, Politik und natürlich die Zukunft und das Schicksal Russlands spekuliert.
Das lateinische Wort Intelligentia bedeutet Verständnis oder Fähigkeit zu verstehen oder Begriff, Konzept, Idee. Der Hl. Thomas von Aquin schrieb im 13. Jahrhundert: „In mehreren aus dem Arabischen übersetzten Werken werden die Wesen, die wir Engel nennen, als Intelligentia betrachtet, vielleicht weil sie gut denken können“.
Die ursprüngliche Bedeutung des Begriffes Intelligenzija änderte sich jedoch im 19. Jahrhundert jedoch – nachdem die Russen das Wort aus dem Deutschen übernommen hatten, begannen sie es auf diejenigen anzuwenden, die die Fähigkeit hatten zu tiefgreifend zu denken, d.h. auf gebildete Menschen. Es ist schwierig, den genauen Moment zu bestimmen, in dem dieser Begriff seine Bedeutung änderte, aber Historiker glauben, dass Wassilij Schukowski, einer der bedeutendsten russischen Dichter des frühen 19. Jahrhunderts, der Erste war, der die neue Bedeutung verwendete. Zumindest war er der Erste, der dies schriftlich tat.
Porträt von W.A. Schukowski
Karl Brjullow/Tretjakow-Galerie„Unser bester St. Petersburger Adel ist die Intelligenzija mit europäischer Bildung und Denkweise“, kommentiert der Soziologe Lew Gudkow und zitiert dabei Schukowskijs Tagebuch. „So vereint er in diesem Wort drei Komponenten: eine proeuropäische Ausrichtung, eine gute Ausbildung und den Wunsch, die Menschen aufzuklären.“
Pjotr Boborykin, russischer Journalist und Schriftsteller, von dem allgemein angenommen wird, dass er den Begriff Intelligenzija in Umlauf brachte, hat in seinem Roman „Verlässliche Tugenden“ wichtige Merkmale dieser sozialen Schicht aufgenommen. Ein Mitglied der Intelligenzija bevorzugt ethische Perfektion gegenüber weltlichem Besitz, denkt über Zukunft und Fortschritt nach und arbeitet ständig an sich selbst.
Seitdem hat sich der Kontext nicht geändert: Bei der russischen Intelligenzija geht es um hohe ethische Standards und moralische Überlegenheit, nicht nur um eine gute Ausbildung und intellektuelle Arbeit. „Es gibt Intellektuelle im Westen, aber nur wir haben die Intelligenzija“, schrieb die Komsomolskaja Prawda in einem Artikel, der den Begriff definiert.
Der Begriff Intelligenzija, der ursprünglich zur Beschreibung von Freidenkern, intellektuellen und der moralischen Elite geprägt wurde, war im Russischen Reich eng mit dem prowestlichen und liberalen Teil der gebildeten Gesellschaft verbunden, der oft gegen den Zaren und die Regierung war.
Es ist nicht verwunderlich, dass viele regierungsfreundliche Russen, einschließlich patriotischer Intellektueller, die Intelligenzija (die normalerweise in Anführungszeichen gesetzt wird, um sie herabzuwürdigen) als Russophobe oder einfach als nutzlose Jammerer bezeichneten.
"Sreda", eine literarische Gesellschaft in Russland, die 1899 gegründet wurde und bis 1916 funktionierte.
Getty Images„Es gibt Menschen, die sich gerne ,Intelligenzijaʻ nennen.... die nicht über einen starken Willen oder gesunde Logik verfügen... Diese Mitglieder der ,Intelligenzijaʻ versuchen, ihre Emanzipation und Unabhängigkeit zu verkünden, indem sie Russland verunglimpfen“, behauptete Iwan Aksakow, ein patriotischer Intellektueller, im Jahre 1868.
Lenin zum Beispiel ärgerte sich über jene Mitglieder der Intelligenzija, die „Lakaien des Kapitals“ blieben (da sie seine Revolution nicht unterstützten). Wütend schrieb er in einem Brief an Maxim Gorki: „Sie denken, dass sie das Gehirn der Nation sind. In der Tat, sie sind nicht das Gehirn, sondern Sch..ße.“ Das bedeutet jedoch nicht, dass er die gesamte Intelligenzija gehasst hat – die Linken waren ihm immer willkommen.
Im Laufe der Zeit begannen immer mehr Menschen, den Begriff Intelligenzija mit ironischen Konnotationen zu verwenden und sie als Menschen darzustellen, die zu sehr mit dem Nachdenken über moralische Probleme beschäftigt sind, um tatsächlich etwas Praktisches und Nützliches zu tun. „Er hat nie irgendwo gearbeitet. Die Arbeit würde sein Denken über die Mission der russischen Intelligenzija stören.... und er betrachtete sich selbst als Teil davon“, verspotteten Ilja Ilf und Jewgenij Petrow diese Schicht in ihrem satirischen Roman „Das goldene Kalb“.
Andrej Sacharow
Walentin Sobolew/TASSGleichzeitig haben einige Menschen, die als Teil der Intelligenzija angesehen werden, die Gesellschaft beeinflusst und versucht, die Welt zu verbessern – zum Beispiel der sowjetische Physiker Andrej Sacharow, der sich für die Menschenrechte in der UdSSR einsetzte und staatliche Repressionen zu erdulden hatte. Er erhielt 1975 den Friedensnobelpreis.
Heutzutage gibt es einen allgemeineren Begriff, der nichts mit Politik oder der sozialen Rolle der Intelligenzija zu tun hat – intelligentnyj ist ein russisches Adjektiv, das höflich, gebildet und sittsam bedeutet. Dieser Begriff kann für jede Person verwendet werden, die respektiert wird und deren Verhalten als Vorbild für jeden in der Gesellschaft dienen kann. Aber intelligente Menschen nennen sich selbst niemals so. Vielleicht ist es deshalb so schwer zu definieren, wer heutzutage zur russischen Intelligenzija gehört.
Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung ausschließlich unter Angabe der Quelle und aktiven Hyperlinks auf das Ausgangsmaterial gestattet.
Abonnieren Sie
unseren kostenlosen Newsletter!
Erhalten Sie die besten Geschichten der Woche direkt in Ihren Posteingang!