Tabuthemen in Schulen: Wie steht es um die Sexualerziehung in Russland?

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Das Thema Sexualerziehung wird im russischen Schulunterricht vernachlässigt.

In einer gewöhnlichen Moskauer Wohnung sitzen ein Junge und ein Mädchen auf einem Sofa. Beide sind kaum älter als 16. In der Luft hängt der schwache Geruch von Weißwein und Unbeholfenheit. Im Ohr des Jungen befindet sich ein versteckter Empfänger. Sein Vater und seine Freunde beobachten das Paar über versteckte Kameras und geben Ratschläge, was er tun soll. Doch kurz bevor es zu einem Kuss kommt, bricht die Verbindung ab. Einer der „Helfer” hat Kaffee über das Equipment geschüttet. Nun ist der Junge auf sich allein gestellt. 

In einer weiteren Kameraeinstellung sehen wir die beiden wieder. Das Mädchen trägt nun ein Brautkleid. Der Junge sieht aus wie ein Kaninchen im Scheinwerferlicht. Offenbar wurde das Mädchen schwanger und er, als „echter Gentleman”, muss sie nun heiraten.

Dieser Ausschnitt ist aus einem Video der russischen Rapper Kasta und der lettischen Rockband Brainstorm zu ihrem gemeinsamen Song „Über Sex“. Er hat die Botschaft, dass Eltern ihre Kinder aufklären sollten, um nicht von ungewollten Schwangerschaften und zum Scheitern verurteilten  Zwangshochzeiten überrascht zu werden. 

Hintergrund 

Es gibt kaum geeignete Materialien für die Sexualerziehung in Russland, abgesehen von einem kurzen Kapitel in einem Lehrbuch für die elfte Klasse über die allgemeine Gesundheit und das Wohlergehen. Stattdessen beziehen Schüler ihr Wissen über Beziehungen, Verhütung oder die Risiken von ungeschütztem Geschlechtsverkehr aus so unzuverlässigen Quellen wie der Werbung, aus Filmen und Videospielen, aus Pornos und – was besonders erschreckend ist – über ihre Mitschüler. Oft ist es den Kindern unangenehm, mit ihren Eltern über dieses Thema zu sprechen, die ihrerseits Aufklärungsgespräche allzu gerne an die Lehrer abgeben. 

Laut einer Umfrage des Allrussischen Zentrums für öffentliche Meinung (WZIOM) befürworten mehr als 60% der Russen die Einführung von Sexualkunde in den Schulen. Schon in der Sowjetzeit war das Thema nicht Bestandteil des Lehrplans, obwohl sich ab 1986 in Anatomie-Lehrbüchern immerhin ein Kapitel mit dem Fortpflanzungsprozess befasste. 

2014 hat die Staatsduma die Kinderrechtskonvention gebilligt, die auch die Einführung von Sexualkunde in den Schulen vorsieht. Doch bisher ist nichts geschehen. Die Regierung ist sich uneins. Die stellvertretende Ministerpräsidentin Tatjana Golikowa findet, dass das Thema Verhütung im Unterricht besprochen werden sollte. Bildungsministerin Olga Wassiljewa und die Kinder-Ombudsfrau Anna Kusnezowa sind dagegen. 

Die Einführung von Sexualkunde wird zusätzlich durch ein Gesetz von 2012 erschwert: Das Gesetz zum Schutz von Kindern vor gesundheits- und entwicklungsschädlichen Informationen. Es verbietet die Darstellung und Beschreibung sexueller Handlungen für Kinder unter 16 Jahren. Das könnte sich für die Lehrer nachteilig auswirken, dennoch sind einige bereit, dieses Risiko einzugehen. 

Heimliche Aufklärung 

Vor zwei Jahren informierte die 34-jährige Englischlehrerin Swetlana Achtklässler nach der Schule über HIV. Während des Gesprächs stellte sich heraus, dass fast die Hälfte der Klasse sexuell aktiv war, aber niemand Kondome benutzte.

„Zu meinem Erstaunen sagten sie, sie schämen sich zu sehr, diese zu kaufen. Es brach aus mir heraus: ‚Ihr schämt euch nicht, Alkohol und Zigaretten zu kaufen (das ist unter 18 Jahren in Russland verboten), aber Kondome (keine Altersbeschränkung beim Kauf) sind euch peinlich?‘ Sie antworteten einstimmig mit Ja”, erinnert sich Swetlana. Danach führte sie ein separates Gespräch mit der weiblichen Hälfte der Klasse über Verhütungsmethoden und Schwangerschaftsabbrüche. 

Und sie hatte nie die Absicht, die Eltern um Erlaubnis zu bitten. „Wir treten selten mit Eltern in Kontakt und beschweren uns noch seltener über die Kinder. Man weiß nie, welche Konsequenzen das hat. Einmal haben wir erfahren, dass ein Junge, dessen Lehrer sich über ihn beschwert hat, von seinem Vater geschlagen und in den Keller gesperrt wurde. Seitdem versuchen wir, Probleme ohne Eltern zu lösen”, sagt sie bedauernd.

Daria, eine Physiklehrerin aus Moskau, räumt ein, dass manchmal auch Kindern aus wohlhabenden Familien die grundlegendsten Kenntnisse fehlten. „Einige Mädchen wissen nicht, dass Menstruationsblut und Urin aus verschiedenen Organen kommen. Sie wissen nichts über Tampons oder das Hymen. Jungen schämen sich für feuchte Träume und Erektionen“, meint sie. Russische Biologiebücher behandeln das Thema Fortpflanzung und HIV ihrer Meinung nach nur sehr allgemein. Zudem würden viele Lehrer diese Kapitel gerne überspringen.

Die unbefleckte Empfängnis 

Alexandra Sotowa, eine 25-jährige Kassiererin aus Wolokolamsk, wird im August dieses Jahres ihr erstes Kind, ein Mädchen, zur Welt bringen. Sie möchte, dass sich die Sexualerziehung ihrer Tochter von ihrer unterscheidet. „Uns wurde im Grunde gesagt, dass ein Mädchen schon durch eine  Berührung schwanger werden könnte, sagt sie. Sie wurde erst in der Schule über Verhütung aufgeklärt, da war sie schon 16. Für einige kam das zu spät. In jeder Klasse gab es zwei bis drei schwangere Mitschülerinnen.  

Einige Schulen laden sogar Priester zu Vorträgen über Moral ein, sagt die 26-jährige Logopädin Tatjana Gribanowa. „Sie kamen zu zweit, ein Priester und seine Frau. Sie sagten, Mädchen sollten keine Hosen tragen, diese würden die Schamlippen reizen und Krankheiten verursachen”, erinnert sich Tatjana. Es wurde den Schülern auch erzählt, dass die genetischen Merkmale aller früheren Sexualpartner einer Frau an ihr Kind weitergegeben würden. Dazu gaben sie das folgende Beispiel. „Wenn sich eine Stute erst mit einem Zebra und dann später mit einem Hengst vereinigt, kommen dabei gestreifte Fohlen heraus.” 

Es sei nicht hinnehmbar, dass Priester ihre persönlichen, „pseudowissenschaftlichen“ Ansichten ohne Zustimmung der Diözese teilten, sagt Alexander Wolkow, Pressesprecher des Patriarchen Kirill von Moskau und Russland.

„Solche Aussagen entsprechen nicht der offiziellen Position der Kirche. Sie sind die privaten Ansichten Einzelner. In solchen Fällen haben Eltern das uneingeschränkte Recht, sich bei der Schulverwaltung oder der Diözese zu beschweren“, stellt er klar. 

Im Übrigen sind Besuche von Geistlichen nur mit Zustimmung der Schulleitung gestattet. „Schulen bitten oft um Hilfe beim Unterrichten solcher Themen. Manchmal wissen sie nicht, wie sie mit den Kindern, denen sie täglich begegnen, ethische und moralische Fragen besprechen sollen”, so Wolkow. 

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Selbststudium  

Sexualkundeunterricht kann die Psyche von Kindern schädigen. Das ist das Hauptargument der Gegner von Sexualerziehung in der Schule. 

Zweitens halten einige Lehrer und Eltern das Thema für zu intim, um es außerhalb der Familie zu diskutieren. 

Das dritthäufigste Argument ist: „Wir hatten solchen Unterricht auch nicht und wussten trotzdem Bescheid.” Der vierzigjährige Alexei, Vater einer zehnjährigen Tochter, erhielt seine Sexualerziehung aus Erotikfilmen, Erwachsenenzeitschriften und christlicher Kinderliteratur.

„Unsere Generation hat sich gut entwickelt. Und die Kinder von heute sind schlauer als wir, vor allem durch das Internet”, meint er. 

Sexualkunde für alle  

Während einige noch über die Notwendigkeit der Einführung von Sexualerziehung in Schulen streiten, haben Befürworter schon längst eine Online-Kampagne gestartet. Zum Beispiel hat die UNESCO die Community Dwor [zu Deutsch „Hof” ]im russischen sozialen Netzwerk VKontakte ins Leben gerufen. Dort geben sie mithilfe von Memes Ratschläge zu Verhütungsmitteln, Beziehungen und den Umgang mit Depressionen. 

Laut Alexandra Iliewa vom UNESCO-Institut für Informationstechnologien in der Erziehung geht es in der Sexualerziehung nicht nur um Verhütungsmittel und persönliche Hygiene, sondern auch darum, wie man sich vor sexueller Gewalt schützt. „Es ist wichtig, dass Jugendliche nicht nur etwas über Physiologie lernen, sondern auch wissen, wie sie Nein sagen und an wen sie sich wenden können, wenn sie Probleme haben”, betont sie. 

Sie findet es schade, dass kaum Erwachsene Mitglieder der Gruppe sind. Sie ist sicher, dass Eltern und Lehrer auch davon profitieren würden, wenn sie die Informationen lesen und sie an ihre Kinder oder Schüler weitergeben. 

All das ist auch Thema in speziellen Vorträgen für Erwachsene, sagt Jana Sadoroschnaja, die PR-Managerin der Online-Community „Kinky Russia“. Es stünden dabei keine Sexualpraktiken im Vordergrund, sondern es gehe um die Kultur des Geschlechts, einschließlich der Selbstbestimmung und gegenseitiger Achtung. „Bevor Erwachsene den Kindern etwas beibringen können, müssen sie das selbst erst einmal lernen”, findet Jana. Es ist schwer, ihr dabei nicht zuzustimmen. 

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