Gagarin im Weltraum, der Sieg im Zweiten Weltkrieg, Poesie, die Sprache, die Größe des Territoriums, die Hockeymannschaft – man kann sich an viele Dinge denken, um stolz zu sein. Die russische Gesellschaft ist reich an solchen Beispielen.
Jeder von uns kann sich an ein paar brillante Landsleute erinnern und sagen: „Ich bin stolz darauf, ein <zutreffende Nationalität bzw. Staatsangehörigkeit bitte hier angeben> zu sein“. Was würde den Russen noch bleiben, wenn sie Dostojewski, Tschaikowsky und Gagarin für eine Weile vergäßen? Die folgenden persönlichen Geschichten werden mehr als hunderte Erwähnungen von Helden erklären.
„Als ich zehn Jahre alt war, verlor mein Vater die Kontrolle über das Auto. Es war eine dunkle kasachische Nacht, die Straßen waren vereist und das Auto drehte sich zweimal, bevor er es wieder zum Stehen kam. Er hielt das Auto an, atmete tief ein und drehte sich um, um sicherzustellen, dass mit mir alles in Ordnung war“, erinnert sich Julia Kwatsch, eine gebürtige Sibirerin.
In dieser Nacht sah sie ihren Vater, wie sie ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Sie hatte früher sie schon einmal Anzeichen von Angst auf seinem Gesicht gesehen: als die Wirtschaft zusammenbrach, die Kassen der kasachischen Stadt Baikonur leer waren und er von seinem Militärgehalt die Familie nicht durchbringen konnte.
Sie erinnert sich auch an seine Augenringe, denn um über die Runden zu kommen, arbeitete er jede Nacht als Taxifahrer und ging morgens zu seiner eigentlichen Arbeit. „Ich sah seine Liebe und Sorge um mich, als er sich um einen Englisch-Nachhilfelehrer um mich kümmerte, den wir uns kaum leisten konnten. Und plötzlich wurde mir klar, dass ich ihn nicht ein einziges Mal klagen gehört hatte“, sagt sie. „In dieser Nacht sah ich den russischen Geist in meinem Vater. Und wenn Sie sich umhören, stellen Sie fest, dass es in jeder Familie eine ähnliche Geschichte gibt.“
Sie haben eine Vorstellung von Russen, nicht wahr? Die sind düster, trinken oft und viel und lächeln selten. Natürlich sind das alles (bis zu einem gewissen Grad) Klischees, aber manchmal ist die russische Realität wirklich erdrückend. Jedes Mal, wenn Wladimir Sacharow von seiner Reise durch Europa in seine Heimatstadt bei Moskau zurückkehrte, geriet er durch die beklemmende Atmosphäre und die Depression der anderen selbst in Depression.
„An einem dieser depressiven Winterabende stand ich an einer improvisierten Kreuzung in der Nähe meines Wohnhauses. Ein klassischer russischer Schlucki stand neben mir: schlecht gekleidet, verkatert und wie ein Puma stinkend. Da mir seine Anwesenheit unangenehm war, fluchte ich laut und wollte die scheinbar leere Straße überqueren“, sagt Sacharow.
Plötzlich streckte der Mann seine Hand und hielt Wladimir fest. Das nächste, was dieser sah, war das Auto, das dort langfuhr, wo er gewesen wäre, wenn dieser Mann ihn nicht festgehalten hätte. Der Mann sagte nichts, sah ihn nicht einmal an. Das Auto fuhr vorbei und Wladimir überquerte die Straße.
„Momente wie diese lassen mich daran denken, dass nicht alles Gold ist, was glänzt, und nicht alles verfault ist, was riecht. Manche Russen mögen wie ein Dreckschwein aussehen, aber wenn es Ärger gibt, brauchst du keine Rosen, du brauchst jemanden, der dir hilft. Und das ist es, was die Russen tun.“
„Wir haben die Revolution, Stalin, den Zweiten Weltkrieg und viele Jahre hinter dem Eisernen Vorhang überlebt, und irgendwie haben die meisten von uns ihren Verstand behalten“, sagt Galina Craigs. Sie wohnt seit zwanzig Jahren in Virginia. Ihre Mutter und ihre Schwestern leben in Russland, und „sie sind alle stolz darauf, in dem Land zu sein, in dem sie jetzt leben.“
„Mein Urgroßvater verbrachte 17 Jahre in Stalins Gulag. Ihm fehlten zwei Finger, die er sich zum abgeschnitten hatte, um zu überleben. Und er hatte nur noch ein Auge (das andere hatte er im Zweiten Weltkrieg verloren). Meine Urgroßmutter verlor sieben von ihren neun Kindern durch Hunger. Mein Großvater wurde von den Behörden verfolgt, weil das Lager der Nazis überlebt hatte (er war geflüchtet und hatte halb Europa zu Fuß durchquert).“
„Aber ich bin immer noch stolz auf mein Erbe, wegen unserer Überlebensfähigkeiten und all Anstrengungen zum Überleben. Jetzt wissen wir, wie man das Leben genießt und schätzen es wie kein anderer“, sagt sie.
Bedeutet das, dass die Russen nur dann stolz auf sich selbst sind, wenn das Leben sie in die Knie zwingt? Einerseits ja. Mein Vater zum Beispiel erinnert uns auch gerne stolz daran, dass wir eine Nation von „Überlebenden“ sind (und er hat auch Grund, das zu sagen). Aber andererseits auch nicht.
Hier sind noch ein paar weitere Antworten auf die Frage, worauf sie die Russen stolz sind:
„Sagen wir einmal so: Russland ist weit davon entfernt davon, ein Wirtschaftsparadies zu sein, weshalb wir oft weniger besitzen als die Menschen in den entwickelten Ländern. Einige denken, dass es schlecht sei, wenn man keine 3 iPhones besitzt. Aber ich denke, dass diese Situation mich dazu bringt, mich beim Studium mehr anzustrengen. Ich betrachte die Arbeit an mir selbst als den Zweck meines Lebens, statt nach einem iPhone zu gieren. Wenn ich irgendwo in Europa leben würde, könnte ich wahrscheinlich weniger im Leben erreichen. Aber ich lebe auf dem Land, das macht mich gleichzeitig hart im Nehmen und eröffnet mir Möglichkeiten“, sagt Wadim Newerow.
Eine andere Befragte, Anna Winogradowa, erinnert sich: "Es war ein Massenkult. Es wurden sogar Krankenwagen mit Ärzten bereitgestellt, falls jemand nach dem Schwimmen zusammenbrach. Allein in Moskau ging eine riesige Zahl Menschen schwimmen. Zehntausende? Hunderttausende? Moskauer sind allerdings Weicheier. Und der Schulbesuch bei diesem Rekordfrost (auch wenn er freiwillig war)? Die ganze Stadt funktionierte normal, es war nur ungewöhnlich weiß und still ohne die ganzen Autos auf den Straßen. Die Russen zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich an ihre Umgebung anpassen. Sie werden krank und depressiv, wenn das Leben zu einfach wird – sie brauchen die Notsituation – ob nun von der Natur oder auch von Menschenhand verursacht.
Schließlich gab es noch die humorvolle Antwort eines Dima Worobjej:
„1) Wir reißen uns den Arsch auf. Wir zahlen vielleicht einen schrecklichen Preis dafür, aber wir erledigen Dinge.
2) Wir haben die Improvisation in eine hohe Kunst verwandelt. Wir entwickeln Dinge aus Kaugummi, einem Stock und unserem eigenen Blut. Sie sehen manchmal wie Scheiße aus, aber sie tun ihre Arbeit, und sie retten unsere traurigen russischen Ärsche, wenn alle anderen uns zum Sterben zurückgelassen haben.
3) Wir haben einen sanften, großmütigen Kern, der nie unter dieser Schale aus verlorenen Möglichkeiten und der Kruste aus verletztem Stolz, Groll und Aggression stirbt. Wir hassen diesen Kern, weil wir denken, er es uns schwach macht. Aber an einem guten Tag kann man durch Risse hindurch sehen und erkennen, wie warm und gleichmäßig er leuchtet.“
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