Meinung: Warum geraten Russen schon in jungen Jahren in eine Lebenskrise?

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Betroffene junge Frauen und Männer erzählen, warum sie plötzlich unzufrieden und unglücklich in ihrem Leben wurden.

„Wenn ich diese Krise nicht überwunden hätte, wäre ich aus dem Fenster gesprungen”, sagt Boris, 36 Jahre alt, erfolgreicher Anwalt, geschieden und Vater von drei Kindern. Boris war beruflich und privat ein Erfolgsmensch, bis er schwer depressiv wurde und sogar versucht hat, sich das Leben zu nehmen. Ursache war eine Lebenskrise.  

In den USA und Europa fühlen sich die Menschen noch in ihren späten 40er jugendlich und orientieren sich häufig noch einmal um, beruflich oder privat. Sie entdecken während eines Sabbat-Jahres die Welt oder erfinden sich noch einmal neu. Dagegen leiden Russen unter der sogenannten Midlife Crisis und das oft schon Anfang bis Mitte 30. 

Wir haben mit Betroffenen gesprochen und versucht, die Wurzel des Übels zu verstehen. Die Gründe sind vielfältig: eine strenge Erziehung mit hohen, oft unrealistischen und unerfüllbaren Erwartungen, noch immer in Stein gemeißelte Geschlechtsstereotypen, verbunden mit einem enormen gesellschaftlichen Anpassungsdruck, der große Einfluss von Eltern und Umfeld bei der Lebensplanung bis hin zur Wahl von Beruf und Ehepartner. 

„Eine Midlife-Crisis wird oft als Wertekrise charakterisiert, als Sinnverlust im Leben. Die Menschen fragen sich, ob sie wirklich Ziele erreichen wollen, die nicht ihre, sondern die der Gesellschaft sind. Sie erkennen, dass das Leben endlich ist und sie bereits viel Zeit verloren haben”, erklärt Professorin Olga Moltschanowa von der sozialwissenschaftlichen Fakultät der Higher School of Economics, HSE.

„Es gibt keine interkulturellen Studien oder Statistiken, die die Midlife-Crisis in Russland und im Ausland vergleichen, aber wir können annehmen, dass eine Lebenskrise bei einigen Russen aufgrund unseres sowjetischen Hintergrunds früher eintritt. Im Westen denken die Menschen, dass jeder Mensch in jedem Alter alles erreichen kann, aber in unserer Gesellschaft haben wir eine kollektive Vergangenheit, die sich an anderen orientiert. Deshalb vergleichen wir unsere Leben mehr miteinander und stellen manchmal fest, dass wir weniger erfolgreich waren als andere. Das macht uns unglücklich”, sagt Moltschanowa.  

Leistungsdruck und übertriebene Erwartungen 

„Wie viele meiner Altersgenossen bin ich nach dem Prinzip ‘höher, schneller, weiter’ erzogen worden. In meiner Vorstellung werde ich nie alles erreichen können. Die Zeit läuft mir langsam davon”, berichtet die 30-jährige Julia, die ein Tattoo-Studio führt. Julia ist gerade in Elternzeit. „Seit meiner Kindheit habe ich mich mit anderen verglichen. Dies ist einer der Gründe, warum ich in die Krise geraten bin. Mit meinen 30 Jahren glaube ich nun, nicht genug geleistet zu haben, zu wenig gereist zu sein, keinen interessanten Beruf und zu wenig Geld zu haben. Unbewusst sehe ich mich in der Zeit nach dem 40. Lebensjahr als alt und krank und in instabilen beruflichen Verhältnissen. Es scheint, als wäre das Leben dann vorbei”, so die junge Mutter. 

Der Frust kann auch andere Ursachen haben als das Gefühl, nicht genug erreicht zu haben im Leben. Stasja ist eine typische Überfliegerin. Sie hat eine steile Karriere in einer Moskauer Bank gemacht. Nebenher hat sie Fremdsprachen gelernt, tanzt Tango und ist regelmäßig verreist. Doch in den letzten zwei Jahren war sie sehr deprimiert und hatte schwerwiegende gesundheitliche Probleme. Im Dezember wird Stasja 30 Jahre alt. „Ich musste immer perfekt sein, immer die Beste, immer alles geben. Wenn ich einmal nichts tue, betrachte ich mich als Faulpelz“, sagt sie.

Manchmal ist die falsche Berufswahl Auslöser der Krise. Als Anwalt ist Boris auf geschäftsschädigendes Verhalten spezialisiert und hat in neun Jahren nicht einen einzigen Fall vor Gericht verloren. Dass er Anwalt wurde, war die Entscheidung seiner Eltern. Er ist zwar erfolgreich geworden, aber unglücklich. Das Ergebnis ist eine langjährige psychiatrische Behandlung und die Einnahme von Antidepressiva, um mit seinen chronischen Depressionen weiterleben zu können. Das alles hat er mit erst 36 Jahren schon hinter sich.

Einmal hat Boris alles hingeworfen und einen Verlag gegründet. Doch er hat nicht genug verdient, um die Familie ernähren zu können, und musste wieder als Anwalt arbeiten. Doch er versucht inzwischen, sich mehr Zeit zu nehmen für Beschäftigungen, die ihm gut tun.  

Geschlechtsstereotypen 

Das häufigste Geschlechterstereotyp für Frauen in Russland ist der gesellschaftliche Druck, zu heiraten und Kinder zu bekommen. Olga ist erfolgreich in der Finanzbranche und lebt zusammen mit Partner und Hund. Noch hat sie sich weder für noch gegen Kinder entschieden. Doch sie sagt: „Manchmal höre ich in meiner Vorstellung ein Dutzend Gynäkologen schreien, dass ich schon 30 sei und meine biologische Uhr ticke. Ich müsse sofort ein Kind bekommen, komme, was wolle!” 

Natalja ist eine unabhängige Filmemacherin in den frühen 30ern. Sie hatte mit einer Krise zu kämpfen, die mit ihrer frühen Heirat und einer schmerzhaften Scheidung zusammenhing: „Ich denke, das Problem ist, dass die russische Gesellschaft will, dass wir frühzeitig Familien gründen.“ Die junge Frau wollte dem Beispiel der Eltern folgen und heiratete im Alter von 23 Jahren. Mit 27 Jahren erkannte sie, dass ihr Mann keine Kinder haben wollte. Ihre Familie brach auseinander. Sie ließen sich scheiden. Natalja erklärt, dass in der russischen Gesellschaft die Familie als heilig betrachtet wird. Je früher geheiratet wird, desto besser.

„Die Russen haben gerade erst damit angefangen, neue Möglichkeiten der beruflichen Selbstverwirklichung und andere Beziehungsmodelle als die Ehe zu entdecken. Sie tun sich schwer damit, es fällt ihnen nicht leicht, die neue Vielfalt zu akzeptieren. Die Russen leben nach altvertrauten Mustern und es fällt ihnen schwer, diese zu überwinden. Daher kommt es zur Krise.

Doch eine Krise ist nicht der einzige Weg zu mehr Reife. Es gibt mit zunehmendem Lebensalter auch die aktiv vorangetriebene Veränderung. In Russland scheint das Modell Krise weiterhin verbreitet zu sein, während es im Westen mehr die aktive Veränderung ist”, fasst Professor Moltschanowa zusammen.  

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