Das deutsche sitzen und das russische сидеть (sidetj) haben die gleiche Wurzel. Aber aufgrund der historischen Umstände hat das Wort in der russischen Sprache auch noch weitere Bedeutungen erlangt, die uns erlauben, die Entwicklung der russischen Gesellschaft nachzuvollziehen.
Sitzen mit dem Zar
In der Zeit der frühen russischen Fürsten bedeutete sitzen auch regieren. Wenn in den Chroniken steht, dass ein Fürst, auf Russisch князь (knjas) in einer Stadt saß, so bedeutete dies in der Regel, dass er dort einen Palast mit schützenden Mauern hatte und unter seiner Kontrolle Steuern und Abgaben erhoben wurden, während er selbst auf seinem Thron saß. Und dieser Stuhl, dieses zum Sitzen bestimmte Möbelstück, galt als wichtiges Zeichen der Macht des Fürsten.
In Anwesenheit des Fürsten galten besondere Sitzregeln. Dies geht auf die Zeit der дружина (druschina) zurück, was in etwa mit ein Haufen Freunde übersetzt werden kann und das Gefolge des Fürsten bedeutet. Die Mitglieder der druschina, die dem Fürsten am nächsten standen, unterschieden sich von den Angehörigen der Unterschicht dadurch, dass sie das Recht hatten, mit dem Fürsten an dessen Tisch zu sitzen, wobei die „besten Freunde“ des Fürsten einen Platz neben ihm einnahmen.
Diese Regel wurde bis in die Zarenzeit beibehalten und erhielt einen besonderen Namen –местничество (mestnitschestwo). Es war ein kompliziertes System des institutionellen Dienstalters, das auf den historischen Aufzeichnungen über hochrangige militärische Ernennungen beruhte. Dieses System der Amtsbesetzung war am besten an der Sitzordnung der Bojaren am Zarentisch zu erkennen. Die Bojaren gerieten sich in die Haare, wenn ihr rechtmäßiger Platz besetzt war. Der bedeutende russische Historiker Wassilij Kljutschewski aus dem 19. Jahrhundert drückte es so aus: „Man konnte einen Bojaren verprügeln, man konnte ihm seinen Besitz wegnehmen, man konnte ihn aus dem Staatsdienst ausschließen, aber man konnte ihn nie dazu bringen, eine Ernennung oder einen Platz am Zarentisch anzunehmen, der niedriger war als jener, der ihm zustand.“
Obwohl das Mestnitschestwo-System formell nur bis 1682 bestand, wurde und wird es teilweise immer noch aktiv in der russischen Regierung befolgt. Am 5. Mai 1999 tadelte Boris Jelzin öffentlich die Minister seiner Regierung, weil sie in einer falschen Reihenfolge saßen – die Minister ließen den Innenminister und Ersten Stellvertretenden Ministerpräsidenten Sergej Stepaschin nicht neben seinem unmittelbaren Vorgesetzten, Ministerpräsidenten Jewgeni Primakow, Platz nehmen. Jelzin bemerkte die Verwirrung und sagte „Sie sitzen falsch. Stepaschin ist der Erste Vizepremierminister. Wechseln Sie Ihre Plätze“, woraufhin Sergej Stepaschin seinen „rechtmäßigen“ Platz neben Jewgeni Primakow einnahm.
Beim Wodkabrennen sitzen
Unterdessen legten auch die Untertanen des russischen Souveräns, die Bauern, großen Wert auf die Sitzordnung und das Sitzen selbst. In ihrem Haus, der изба (isba) wurde eine Bank an der Wand befestigt und auch hier wurde eine bestimmte Sitzordnung eingehalten. Der wichtigste Sitzplatz befand sich in der „roten Ecke“, unter den orthodoxen Ikonen, die auf einem Regal standen. Dort saß der Hausherr, der Vater, daneben zu seiner Rechten, auf dem zweitwichtigsten Platz, die Ehefrau, und so weiter.
Aber im 15. bis 16. Jahrhundert gewann das Wort сидеть noch eine weitere wichtige Bedeutung – die Herstellung von Alkohol durch Destillation. Um große Mengen Alkohol zu destillieren (notwendig für die Feste des Zaren und für den Verkauf in so genannten Trinkhäusern), musste man natürlich in der Nähe der Destille sitzen und sie für eine lange Zeit bedienen. Im 18. Jahrhundert und danach gab es dann in den Haushalten reicher Grundherren spezielle Diener mit Erfahrung in der Alkoholherstellung, die сидельцы (sidelzy), auf Deutsch Sitzer.
Die Hälfte sitzt, der Rest zittert
Im Russland des 20. Jahrhunderts konnte die Frage, ob jemand „saß“ oder nicht, nur eines bedeuten – dass die betreffende Person sich im Gefängnis befand. In den Dreißiger- bis Sechzigerjahren waren die Verurteilungen und Repressionen gegen die sowjetische Bevölkerung so massiv, dass ein düsterer Witz geboren wurde: „Das Leben unter Stalin ist wie Busfahren: Einer sitzt am Steuer, die Hälfte der Leute sitzt, der Rest zittert.“ Übrigens konnte es passieren, dass man für das Erzählen dieses Witzes anschließend „sitzen“ musste
Bau des Weißmeerkanals
Alexander Rodchenko/МАММ/MDF/russiainphoto.ruDurch die rücksichtslosen stalinistischen Repressionen und die Kollektivierung der Landwirtschaft landeten Hunderttausende von Menschen in den GULAGs, den sowjetischen Arbeitslagern. Statistiken besagen, dass allein zwischen 1930 und 1953 510.000 bis 2.500.000 Menschen verurteilt und ein Arbeitslager geschickt wurden. Dort „saßen“ die Menschen nur im übertragenen Sinne, denn es waren keine „richtigen“ Gefängnisse mit Zellen, sondern Lager mit Schlafbaracken, in denen die Verurteilten die Nacht und Teile des Tages verbrachten; aber ein Großteil der Zeit wurden sie als Strafarbeiter eingesetzt, um Bauvorhaben wie die Baikal-Amur-Magistrale, verschiedene Flughäfen und Flugplätze, Städte und Ortschaften, Wasserkraftwerke und vieles anderes mehr zu realisieren.
Auf den Baustellen gab es keine Plätze zum Ausruhen oder gar zum Sitzen. Also entwickelten die Verurteilten die heute weltberühmte „Russenhocke“, die es ermöglichte, ohne einen Stuhl zu sitzen. Ein erfahrener Sträfling konnte stundenlang hocken und dann aufstehen und ohne Schmerzen oder Beinkrämpfe weggehen. Diese Fähigkeit konnte erst nach jahrelangem Training erreicht werden. In der freien Welt jenseits des Stacheldrahts der Lager wies diese „Russenhocke“ sofort auf eine Person hin, die eingesessen hatte und daher als solche zu fürchten und zu verehren (oder zu verachten) war.
Über Jahrhunderte ist der Begriff sitzen im Russischen mit seinen unterschiedlichen Bedeutungen und Verwendungen also immer eng mit dem gesellschaftlichen Status verbunden gewesen. Und so ist es bis heute geblieben. Wenn man mit der Moskauer Metro fährt, kann man immer wieder beobachten, wie junge Leute ihre Plätze älteren Menschen anbieten und dabei die altrussische nonverbale Form des Respekts zollen. Denn, so die Russen, man sollte niemals sitzen, wenn ein älterer Mensch steht. Das nennt man Manieren und Etikette und das liegt uns im Blut. Zumindest den meisten von uns.
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