Bild: Alexej Jorsch
Ein junger Kollege, der 1991 erst 15 Jahre alt war, erzählte mir einmal, wie er vom Ende der Sowjetunion erfuhr: „Unsere Russischlehrerin betrat das Klassenzimmer und teilte uns mit, dass die Sowjetunion aufgelöst worden sei. Danach begann sie mit dem Unterricht. Es ging um den sowjetischen Schriftsteller Boris Pilnjak, der unter Stalins Herrschaft erschossen wurde", erinnerte sich der Kollege.
Damals hatten die Präsidenten Russlands, Weißrusslands und der Ukraine mit der Belowescher Vereinbarung den Vertrag über die Gründung der Sowjetunion aus dem Jahr 1922 außer Kraft gesetzt. Die Politiker erklärten, dass an die Stelle der UdSSR nun die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) treten würde, mit gemeinsamen Streitkräften. Die nun ehemals sowjetische Bevölkerung nahm das zur Kenntnis, sorgte sich aber mehr um die Inflation und Geldentwertung oder die leeren Regale in den Lebensmittelgeschäften.
Nach nunmehr 23 Jahren seit Gründung der GUS ist es schwer, jemanden zu finden, der dazu etwas Positives zu sagen hätte. Denn die Gründung der GUS hat unter anderem dazu geführt, dass die Mehrheit der Staatsoberhäupter ehemaliger sowjetischer Republiken im zentralasiatischen Raum heute zu Präsidenten auf Lebenszeit geworden ist.
Warum gibt es die GUS?
Warum wurde die GUS überhaupt gegründet? Die Gründung der GUS sollte im Zusammenhang mit einer Reihe von Faktoren gesehen werden. Sie ist eine Reaktion auf den wirtschaftlichen Zerfall der UdSSR und den Machtkampf zwischen Michail Gorbatschow und Boris Jelzin. Dazu kam die Unabhängigkeitserklärung der Ukraine. Beim Referendum am 1. Dezember 1991 stimmte die Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung für die Unabhängigkeit. Die Belowescher Vereinbarung wurde am 8. Dezember unterzeichnet. In der Folge musste Michail Gorbatschow als Präsident der UdSSR zurücktreten. Auf ihn folgte Boris Jelzin, der erste Präsident Russlands.
Die Auflösung der UdSSR führte zu einer allgemeinen Fassungslosigkeit unter den Staatsoberhäuptern der sowjetischen Teilrepubliken in Zentralasien, in der Kaukasusregion und im europäischen Teil der Sowjetunion, da alle mit einem Schlag zu ehemaligen Republiken der Sowjetunion geworden waren. In den meisten Republiken lag damals der Großteil der politischen Macht in den Händen der örtlichen kommunistischen Parteien, die sich nun „demokratisch" nannten und die Forderungen der Opposition adaptierten. Sie standen nicht länger in Diensten Moskaus.
Allerdings waren die Wirtschaften der ehemaligen Sowjetrepubliken während des 70-jährigen Bestehens der UdSSR derart voneinander abhängig geworden, dass nur jene Republiken einigermaßen selbstständig existieren konnten, die über eigene Rohstoffquellen verfügten wie beispielsweise Kasachstan, Usbekistan, Turkmenistan und Aserbaidschan. Das Überleben der anderen ehemaligen Republiken als unabhängige Staaten hingegen hängt heute mehr oder weniger von der Unterstützung durch größere Staaten wie Russland, China, den USA und der Europäischen Union ab. Einige dieser Republiken, darunter die Ukraine, Moldawien, Georgien und auch die zentralasiatische Republik Kirgisistan, in der mehrheitlich eine muslimische Bevölkerung lebt, rühmen sich eigener historischer und nationaler Traditionen und bekräftigen ihre Adhärenz zu einer wirtschaftlichen Entwicklung nach europäischem Vorbild.
Jedoch stellen die grundlegenden Unterschiede, die zwischen den ehemaligen Sowjetrepubliken in wirtschaftlicher Hinsicht herrschen und in ihren politischen Systemen verankert sind, ein großes Hindernis dar, wenn es um eine gleichberechtigte Zusammenarbeit geht. Überdies leiden einige dieser Staaten unter latenten militärischen Konflikten wie etwa Armenien und Aserbaidschan. Andere ehemalige Sowjetrepubliken wie beispielsweise Tadschikistan haben sich noch immer nicht von den Bürgerkriegen erholt, die nach dem Zerfall der Sowjetunion ausbrachen. Wieder andere ehemalige Teilrepubliken existieren in einem Zustand eingefrorener ethnischer Konflikte und der Abspaltung einzelner Territorien in selbsternannte Republiken wie etwa in Georgien und Moldawien.
Eine Zusammenarbeit mit Russland ist unerlässlich
Einen unglücklichen Ausgang erlebten auch die Versuche, zwischenstaatliche Unionen auf postsowjetischem Boden ohne das Mitwirken Russlands zu gründen. Dies betrifft sowohl zu Russland loyal eingestellte Unionen in Zentralasien als auch gegen Russland eingestellte, unter Mithilfe der USA organisierte, Unionen wie die GUUAM, der Organisation für Demokratie und Wirtschaftsentwicklung , bestehend aus den Mitgliedsstaaten Georgien, Ukraine, Usbekistan, Aserbaidschan und Moldawien.
Dies alles lässt darauf schließen, dass sich auf dem Territorium der GUS nur jene Projekte Erfolg versprechend sind, die unter der Schirmherrschaft Moskaus stehen wie beispielsweise die Zollunion zwischen Russland, Kasachstan und Weißrussland. Russland ist bereit, seinen Partnern Rohstoffe und finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen, jedoch nur unter der Bedingung, dass diese im Gegenzug dafür Russland gegenüber stets loyal sind und davon absehen, mit anderen Machtzentren der Welt eng zusammenzuarbeiten. Doch gerade diese Art des politischen „Austausches" führt zu oft dazu, dass die politische Elite der mit Russland verbündeten Staaten an der Zusammenarbeit zu zweifeln beginnt, indem sie die Pläne Moskaus als neoimperialistische Ambitionen interpretiert.
Nichtsdestoweniger ist es dank der GUS, bei der es inzwischen angemessen ist, von einer zivilisierten Abspaltung der ehemaligen Sowjetrepubliken zu sprechen, gelungen, zwischen den neu entstandenen unabhängigen Staaten mit nur wenigen Ausnahmen ein visafreies Einreiseregime zu schaffen, sodass die Menschen sich frei zwischen diesen Staaten bewegen können, und so den Grundstein für eine Arbeitsmigration zu legen, im Zuge derer Millionen von Menschen nach Russland und Kasachstan kommen. Vor allem Letzteres ist von Bedeutung, ist doch nur dadurch die Wirtschaft angrenzender Staaten in der Lage, weiterhin zu bestehen.
Allein schon aus diesen Gründen ist es nur verständlich, warum die Mehrheit der GUS-Mitgliedsstaaten ein großes Interesse daran zeigt, dass diese internationale Staatengemeinschaft noch längere Zeit bestehen bleibt. Auch die Ukraine hat sich schließlich entschieden, Mitglied der GUS und der Freihandelszone der GUS zu bleiben – ein Austritt hätte negative Folgen für die ukrainische Wirtschaft.
Arkadij Dubnow ist Politologe, internationaler Beobachter und Experte auf dem Gebiet der GUS.
Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
Abonnieren Sie
unseren kostenlosen Newsletter!
Erhalten Sie die besten Geschichten der Woche direkt in Ihren Posteingang!