Die Souveränitätserklärung definierte somit die politischen Grundzüge des postsowjetischen Russlands. Foto: Corbis/East News
Das Jahr 1990, in dem der Kongress der Volksdeputierten der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) die Souveränitätserklärung verabschiedet hat, war eine Zeit, in der sich der Zerfall der Sowjetunion bereits klar abzeichnete. Im ganzen Land wurden Prozesse in Gang gesetzt, die unaufhaltsam zum Ende der UdSSR im Dezember 1991 führten. Die Stimmung im Land war durch Tausende Protestkundgebungen angeheizt, deren Teilnehmer eine radikale politische sowie wirtschaftliche Neugestaltung forderten. Mit der Souveränitätserklärung am 12. Juni 1990 hielt die RSFSR daran fest, „einen demokratischen Rechtsstaat im Verband der erneuerten UdSSR zu schaffen". Darüber hinaus wurde festgelegt, dass die Verfassung der RSFSR auf dem gesamten Staatsgebiet Vorrang hatte. Die RSFSR behielt sich auch das Recht auf einen freien Austritt aus der UdSSR vor. Die Souveränitätserklärung definierte somit die politischen Grundzüge des postsowjetischen Russlands.
Blickt man aus heutiger Sicht auf die letzten 25 Jahre des russischen Staates zurück, so neigen Experten zu der Annahme, dass sich ein postsowjetisches Russland in seinen Grundzügen über die Zeit durchaus bewährt hätte. Jedoch weisen sie auch auf dessen widersprüchlichen Charakter hin, war doch die Deklaration über die Souveränität der RSFSRim Verbund der UdSSR nicht völlig eindeutig, da die RSFSR Träger der gesamten Union war. „Zum einen ebnete die Deklaration dem Zerfall der Sowjetunion den Weg, zum anderen erhielt sie das Territorium der Russischen Föderation", meint der Politologe und Journalist Dmitrij Andrejew.
Boris Schmeljew, Leiter des Zentrums für politische Vergleichsstudien, ist der Ansicht, dass es Russland in den letzten 25 Jahren zwar gelungen sei, Verwaltungsinstitutionen und eine Zivilgesellschaft aufzubauen, sowie ein Wirtschaftssystem in Gang zu setzen. Doch habe der Staat in dieser Zeit noch nicht die nötige Stabilität erworben, um ein effektives demokratisches, politisches System zu etablieren. „In Russland existiert ein zwar mildes, aber dennoch autoritäres Regime ohne gegenseitige Kontrolle. Das Parlament erfüllt nicht seinen primären Zweck, es ist lediglich eine Wahlmaschinerie. Auch ein stabiles Parteiensystem hat sich nicht entwickelt", so Schmeljew.
Über das derzeit in Russland vorherrschende politische System sind sich die Experten indes nicht einig. Michail Remisow, Leiter des Moskauer Instituts für nationale Strategie, ist wie Schmeljew der Ansicht, dass Russland noch immer kein stabiler Staat sei. Denn sonst hätte man bereits „einen öffentlichen Machtwechsel beobachtet, der durch die Konkurrenz alternativer Lager ausgelöst worden wäre. Ein solcher Wechsel hat noch nicht stattgefunden. Wohl eher herrscht das Prinzip der Nachfolgerschaft vor." Gleichzeitig bringe aber ein solches System hinsichtlich der Konsolidierung der Regierung sowie der Bewältigung von Krisen auch gewisse Vorteile mit sich. Für den Analytiker stellt die starke präsidiale Macht in Russland einen „Eckpfeiler" dar, „auf den sich das nationale Konstrukt" stütze.
Die Tradition eines starken Präsidenten wurde von Boris Jelzin etabliert, dem ersten Staatsoberhaupt des postsowjetischen Russlands (1991–2000). Ungeachtet der Tatsache, dass heute manche seine Amtszeit als ein demokratisches Experiment bezeichnen, wurde Jelzin damals für seine Autorität kritisiert. Schmeljew sieht in ihm deshalb den Gründervater dieses milden autoritären Regimes, wobei er seine Autorität als einen unerlässlichen Begleiter jener Anfangszeit bezeichnet, in der der neue Staat gegründet wurde.
Im August 1991 verlangte Boris Jelzin (R) von Michail Gorbatschow (L) den Rücktritt als Generalsekretär der KPdSU. Foto: AP
Hinweise auf Jelzins Autorität seien auch in der Verfassung von 1993 zu finden. Diese besage nämlich, dass in der politischen Landschaft Russlands die Institution des Präsidenten alle anderen staatlichen Strukturen dominiere und das Parlament eine untergeordnete Rolle einnehme. Zudem hatte Jelzin sich nicht mit dem Parlament und den Parteien beraten, als er schon 1992 damit begann, Wirtschaftsreformen durchzusetzen.
Auch Dmitrij Andrejew bemerkt, dass der autoritäre Regierungsstil charakteristisch für Jelzin gewesen sein – vor allem „das ständige Anstacheln verschiedener Gruppierungen, sich gegenseitig zu bekämpfen, sowie die autoritäre Umgangsform mit jenen, die ihm unterstellt waren". Den Politologen erstaunt, wie schnell eigentlich Jelzin „diesen überaus typischen zaristischen Führungsstil angenommen hat".
Paradoxerweise habe sich das allerdings als gut für Russland erwiesen. „Erstaunlicherweise kam es dazu, dass der Hang Jelzins, stark zu regieren – etwas, das damals niemand anzuzweifeln wagte –, in objektiver Hinsicht eben mit jenen Interessen übereinstimmte, die die Strukturierung der Russischen Föderation bestimmten. Kaum jemand anderer hätte Russland in den harten 1990er Jahren zusammenhalten können", so Andrejew.
Dabei war er bei der Verfassungskrise von 1993, einem bewaffneten Konflikt zwischen Jelzin und Vertretern des Volksdeputiertenkongresses, selbst ein Gegner Jelzins. „Heute wäre ich auf Jelzins Seite gestanden", sagt der Politologe und verweist auf eine Zeit, die auch als „Souveränitätsparade" bekannt ist. 1990 und 1991 erklärten viele Regionen Russlands ihre politische Unabhängigkeit. Das wohl dramatischste Kapitel war die Unabhängigkeitserklärung Tschetscheniens sowie die damit in Zusammenhang stehende erste militärische Auseinandersetzung (1994–1996).
Was jedoch die positive Rolle anbelangt, die die starke Institution des Präsidenten in russischen Realien einnimmt, so betonen Politikexperten, dass sich die Ideologie des modernen Russlands zu stark am nostalgischen Erbe der Sowjetunion orientiere. Laut Michail Winogradow, Präsident des Fonds „Petersburger Politik", geniere sich Russland fürseine derzeitige Staatlichkeit, was mit der Sehnsucht nach der Stabilität des sowjetischen Systems zusammenhängen könnte.
Als Nachfolgestaat der UdSSR versuche das Land, diese Staatlichkeit zu stärken. „Das birgt ein Risiko in sich, denn, berücksichtigt man die russische Geschichte ab der Gründung des Altrussischen Staates durch Rjurik [9. Jahrhundert], so beraubt sich das Land des Gefühls eines Jungstaates. Jene postsowjetischen Länder, die sich als junge Staaten sehen, weisen nämlich eine bessere Wirtschaftsdynamik auf", so Winogradow. Der Experte bezieht sich auf die Erfolge Kasachstans und Aserbaidschans, deren Wirtschaft in den letzten 15 Jahren stark wuchs und die sich durch soziale und politische Stabilität auszeichnen.
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