Holzhäuser mit knarrenden Dielen, vor den Fenstern filigran gemusterte Gardinen, duftendes Brot aus einem großen, geweißten Ofen oder die Rote Ecke mit der Ikone – das alles war einst typisch für den russischen Alltag, ist aber heute kaum noch anzutreffen. In Sibirien, weitab von den quirligen Zentren wie Moskau oder Sankt Petersburg, scheint die gute alte Zeit stillgestanden zu sein.
Talzy: Sibirischer Alltag
Foto: Lori/Legion Media
Etwa 47 Kilometer südlich von Irkutsk liegt am Fluss Angara das Freilichtmuseum für Architektur und Ethnografie Talzy mit seinen ungepflasterten Straßen und Holzbauwerken. Hier duftet es nach Holz, Schaffell und frischen sibirischen Piroggen. Seit 1966 werden hier unter anderem Monumente der Holzbaukunst aus dem Baikalgebiet aus dem 17. bis zum beginnenden 20. Jahrhundert gezeigt.
Zu den besonderen Sehenswürdigkeiten gehören eine Rekonstruktion der Südwand des Ilimsker Ostrog, einem Festungsbauwerk, das bis zum 17. Jahrhundert in Russland üblich war, und der Spasski-Torturm aus dem Jahr 1667, einer von sechs noch erhaltenen Ostrog-Türmen weltweit. Ilimsk, der ursprüngliche Standort, wurde durch den Ust-Ilimsker Stausee überflutet. Lohnend ist auch die Besichtigung der Torkirche, die der Ikone der Gottesmutter von Kasan geweiht ist (1697). Sie ist vergleichbar mit den Bauten auf Kischi im Onega-See.
In Talzy bekommt man eine Ahnung vom Alltag der sibirischen Bauern, die seit dem 17. Jahrhundert in der Region siedelten. Da gibt es Wassermühlen, eine kleine Kirchenschule und alte Gutshäuser mit Stallungen und Winter-Banjas. In diesen wurde im Winter Eis für ein Bad aufgetaut.
Das Freilichtmuseum zeigt auch das Leben traditioneller sibirischer Völker wie der Tofalaren, Ewenken und Burjaten. Zu sehen gibt es zum Beispiel einen Labaz, einen Speicher für Lebensmittel in der Taiga, der vor Bären, Marder, Fuchs und Wolf geschützt war, oder einen Golomo, eine Spitzjurte.
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Ein Besuch von Talzy empfiehlt sich besonders in der Herbstzeit. Es gibt hier einen Traktir, eine typisch russische Gaststätte, in der Piroggen mit Preiselbeeren, Moosbeeren mit Zucker, Baikalfisch in Aspik oder Sugudaj, ein Fischgericht der Ureinwohner des russischen Nordens, auf der Speisekarte stehen. In Talzy wird jedes Jahr an Weihnachten, Pfingsten, dem russischen Karneval Maslenitza und an Sagaalgan, dem burjatischen Neujahrsfest, mit lautstarken Kostüm- und Maskenumzügen groß gefeiert. Für einen Besuch in Talzy sollte man viel Zeit einplanen, ein Tag ist nicht genug.
Schuschenskoje: Mehr als Lenins Verbannungsort
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Das Freilichtmuseum für Geschichte und Ethnografie Schuschenskoje liegt bei der gleichnamigen Siedlung im Gebiet Krasnojarsk. Hier gibt es ein gut erhaltenes Dorf zu besichtigen, wie es für das Ende des 19. beziehungsweise den Anfang des 20. Jahrhunderts typisch war, mit seinem Kabak, wie die Dorfkneipe genannt wurde, den Marktständen, einer Polizeiwache sowie den Anwesen der Großbauern und den Izby der ärmeren Bauern. Das waren Katen mit niedrigen Türen, damit beim Öffnen der Tür die Wärme im Haus blieb.
Heute bekommt der Besucher hier auch Einblick in die Ethnografie des Gebietes Krasnojarsk. Über lange Jahre hinweg hatte dieses Museum eine rein politische Bedeutung und war bekannt als Verbannungsort von Lenin in Sibirien. Daher kommen Touristen nicht selten nach Schuschenskoje, um sich nicht nur mit dem Altertum vertraut zu machen, sondern auch mit der Revolutionsgeschichte Russlands. Der junge Lenin lebte während seiner Verbannung in zwei Häusern. In dem eher unscheinbaren Anwesen des
begüterten Bauern Apollon Zyryanov widmete sich der damals noch Unverheiratete seinem Werk „Entwicklung des Kapitalismus in Russland". Später zog Lenin gemeinsam mit Nadjeshda Krupskaya und seiner Mutter in das Haus der Petrows um, das 1930 zum Museum wurde. Die Peter- und Paulskirche, in der Lenin und Krupskaya heirateten, ist leider nicht erhalten.
In Schuschenskoje ist man direkt im 19. Jahrhundert zu Gast und lässt sich in einem der Häuser aus dem „Neudorf" nieder. So heißt der Hotelkomplex des Freilichtmuseums, der im alten Stil gehalten ist – natürlich mit einer Banja. Im Restaurant werden Speisen wie Hirsebrei mit Kürbis oder Bliny serviert, dazu trinkt man Kräutertee. In Schuschenskoje kann der Besucher auch selbst aktiv werden, beim Holzschnitzen, Weben, Malen oder Töpfern – so ist das Souvenir dann aus eigener Hand gefertigt. Unweit des Dorfes findet jedes Jahr Mitte Juli ein internationales Folklorefestival statt, das unter dem Namen „Welt Sibiriens" bekannt ist.
Ethnografisches Museum Transbaikalien: Zufluchtsort der Altgläubigen
Foto: Lori/Legion Media
Burjatische Jurten und ein Dugan, eine buddhistische Kultstätte, ein stufenweise aufgebauter Ambar, Häuser von orthodoxen Altgläubigen und von Ackerbauern – all das und noch viel mehr seltener und sehenswerter Bauten zeigt das Ethnografische Museum Transbaikalien in Ulan-Ude. Es ist eines der größten Freilichtmuseen in Russland.
Dieses Museum ist originell, aber nicht nur wegen seiner archäologischen Sammlung und des Burjatenkomplexes, sondern auch wegen seiner Exponate über das Leben der Altgläubigen. In der Baikalregion hatte sich
eine besondere ethnische Gruppe der Altgläubigen angesiedelt, die Semejskie. Diese Glaubensgemeinschaft von sogenannten priesterlosen Altgläubigen war im 17. Jahrhundert entstanden, weil sie die liturgischen Reformen des Patriarchen Nikon nicht annehmen wollte und daraufhin nach Sibirien verbannt worden war. Der Museumskomplex zeigt eine ganze altorthodoxe Straße mit Izby und Glockenturm der Priesterlosen sowie einzigartigen schmuckvollen Toreinfahrten.
Das Gebiet Transbaikalien hat eine multikulturelle Geschichte. Das Ethnografische Museum Transbaikalien bietet die Möglichkeit, auf einer Fläche von 37 Hektar zu sehen und zu erleben, wie eng die Kultur der Burjaten, Russen und Ewenken miteinander verflochten ist.
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